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Hakim von den Bergen tat den ersten Schlag mit einem Hammer, als er neunzehn war, und grub, bis seine Hand verdorrte im gesegneten Alter von achtundsechzig. Die Leber. Und nicht ein Stäubchen Gold in vierzig Jahren! Sodass die Gerüchte nicht verstummten, auch das erste Gold sei in Wahrheit … doch das waren Gerüchte. Und Hakim II, der treue Sohn, der niemals zweifelte, begann zu graben, als er zwanzig war, und grub, bis der Meißel seiner Hand entglitt im Alter von vierundsechzig. Das Herz. Auch er fand nicht ein Stäubchen. Und zuletzt Hakim III, der Enkel, der treueste der Treuen. Der Mann ohne Zweifel. Begann zu graben, als er dreizehn war.

«Was ist aus ihm geworden?», erkundigte sich Helen.

«Er gräbt noch immer», sagte er und schlug sich stolz auf die Brust. Und werde graben bis an sein Lebensende, dem Beispiel seiner Ahnen folgend, und wenn er sterbe, dann werde es nicht das Herz sein und nicht die Leber, sondern die schwarze Galle, und er werde sich erschießen, genau hier, vor diesem mit eigenen Händen gegrabenen Stollen, seinem Lebenswerk und dem Werk seiner Vorfahren, werde sich einfach das Hirn wegschießen und ein Stäubchen werden in einem Gebirge aus Staub. Er steckte sich den Lauf der Winchester in den Mund, blies lustig die Backen auf und rollte mit den rot geäderten Augen.

«Wollt ihr jetzt den Stollen sehen?»

Sie wollten. Die ersten Meter war es kühl unter der Erde. Dann wurde es rasch wärmer, je tiefer man hinunterstieg. Und stickiger. Hakim torkelte mit einer Karbidlampe voran und forderte Carl und Helen wiederholt auf, sich dicht hinter ihm zu halten: «Ohne mich findet ihr hier nie wieder raus.»

Lange, schulterbreite Gänge waren kreuz und quer durch den Felsen getrieben worden. Nur am Anfang gab es einen etwas größeren Hauptgang, der natürlichen Ursprungs zu sein schien und hier und da mit Hammer und Meißel verbreitert worden war. Mit einem Klicklaut der Zunge machte Hakim auf einen im gesamten Gangsystem akkurat auf Brusthöhe angebrachten Fries aus rußschwarzen Handabdrücken aufmerksam. Nahe am Stolleneingang lauter rechte Hände im Abstand von etwa einem halben Meter; abzweigende Gänge hatten andere Markierungen. Die linke Hand, die linke Hand mit nur vier Fingern, ein Handteller mit nur Zeigefinger und Daumen. Je tiefer sie hinabstiegen, desto weniger Finger waren übrig.

Als die Markierung nur noch ein linker Handteller plus Daumen war, befanden sie sich in einem etwa mannshohen, höhlenartigen Raum, von dem drei oder vier Gänge abzweigten. Hakim leuchtete mit seiner Funzel herum und erklärte, welcher seiner Ahnen welchen Gang in welchem Jahr gegraben habe. Hin und wieder tippte er sich auch stolz auf die eigene Brust und hob vielsagend die Augenbrauen, und Carl, der aufmerksam zuhörte, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, der Erzähler habe hier als junger Mann einst mit der Grabung begonnen, sei als erwachsener und alter Mann damit fortgefahren und sei in Wirklichkeit Großvater, Vater und Enkel in einer Person. Während er noch redete, drang ein entsetzliches Stöhnen aus der Tiefe herauf. Carl sah Helen an, Helen sah den Alten an, und der Alte tat, als habe er nichts gehört. Er berichtete, wie Hakim der Zweite oder Dritte vergeblich versucht hätten, hier unten einen Presslufthammer zu betreiben, imitierte mit aufgeblasenen Backen das Rattern des Werkzeugs und konnte doch das unheimliche Geräusch, das kurz ausgesetzt und dann eine Oktave tiefer wieder eingesetzt hatte, nicht übertönen.

«Was — ist — das?», fragte Helen, und Hakim hielt sich eine Hand ans Ohr.

Es war nichts zu hören.

«Da schnauft etwas», insistierte sie, und das Gesicht des Alten hellte sich auf.

«Ah! Es schnauft? Ich zeig’s euch.»

Eilig steuerte er mit seiner Laterne den am steilsten abfallenden Gang hinunter. Carl und Helen, die oben stehen blieben, riefen ihm hinterher, sie hätten genug gesehen und kein Interesse, weitere Teile des Stollens zu besichtigen. Das Geräusch sich entfernender Schritte antwortete ihnen. Mit jedem Schritt wurde es dunkler in dem höhlenartigen Raum.

«He!», brüllte Helen. «He!»

«Ohne mich findet ihr hier nie wieder raus», kam die Stimme aus der Tiefe; und sich an den Händen fassend eilten Carl und Helen dem schwindenden Licht hinterher. Der Gang war so schmal, dass man nur im Gänsemarsch gehen konnte. Carl war näher am Alten. Helen versuchte vergeblich, sich an ihm vorbeizudrängen, und flüsterte auf Englisch: «Wenn irgendwas ist: erst auf die Lampe, dann auf den Mann. Ohne die Lampe sind wir am Arsch.»

An den Wänden ein Handteller mit nur einem rechten Ringfinger. Nach ein paar scharfen Wendungen verbreiterte der Gang sich und mündete in ein großes, hallendes Dunkel, eine zerklüftete Grotte, die so riesig war, dass das Licht der Karbidlampe die letzten Winkel nicht erreichte. Die Felsdecke war pechschwarz und spannte sich, von natürlichen Säulen und anthropomorphen Felsformationen gestützt, über einem einige Meter großen, schlammigen Tümpel.

Carl räusperte sich, und mit einem Mal erklang direkt vor ihnen ungeheuer laut und nah das Schnaufen wieder.

Hatte man es aus der Entfernung noch für einen geheimen Windzug oder dergleichen halten können, war jetzt klar: Dort im Dunkel wartete etwas Lebendiges.

Hakim turnte über ein paar Felsen hinab und beleuchtete mit seiner Lampe die Ufer des Tümpels. Auf vier zittrigen Beinen stand dort eine Ziege. Oder etwas, das einmal Ähnlichkeit mit einer Ziege gehabt haben mochte. Das Fell war ihr gänzlich ausgegangen. Über beide Augen hing ein weißer Film herab. Entsetzlich langsam drehte das Tier seinen Kopf den Besuchern entgegen und keuchte asthmatisch. Um seinen Hals war eine schwere Eisenkette geschlungen, die aus dem Tümpel herauslief. Ein Halbkreis aus Dreck und Kot am felsigen Ufer ließ die ungefähre Länge der Kette erahnen.

Hakim zog ein Büschel Gras aus seiner Tasche und warf es nach der Ziege. Sie zuckte zusammen und schnupperte dann auf dem Boden nach dem Grün.

Freudestrahlend zeigte Hakim abwechselnd auf das Tier und seinen zahnlosen Mund, machte Schnalzlaute und drückte fünf zusammengelegte Fingerspitzen gegen seine Lippen. «Hat mein Großvater entdeckt! Sechs, sieben Monate, und das Fleisch ist weißer als weiß, zarter als zart. Lecker, lecker. Gedeihen nur in der Dunkelheit.»

In der folgenden Nacht hatte Carl erneut Albträume. Er lag am Strand unweit des Hotels, und neben ihm auf einem Badetuch räkelte sich eine riesige, fette Ziege mit weißblinden Augen. Beim Blick in diese Augen wusste er sofort, dass er ihr nicht zum ersten Mal begegnete, und die Traumstimme verriet, es sei in Wirklichkeit eine Sphinx, deren Rätsel es zu lösen galt. Er durfte nur eine Frage stellen, und er hatte nur einen Versuch.

Er dachte lange nach, dann fragte er: «Wie mag es gehen?», und die Ziege antwortete: «Es geht so.» Erst in diesem Moment wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass das Tier sprechen konnte. Lächelnd rieb es sich mit beiden Hufen übers Gesicht, darunter kam Helens Gesicht zum Vorschein. Ihre Miene. Entsetzt schrak Carl hoch. Ein strahlend blauer, herrlicher Tag stand im Fenster. Er lag allein im Bett. War das noch immer Traum? Oder schon das andere? Er hörte menschliche Stimmen, hob den Kopf und sah hinaus.

Vor dem Bungalow stand Helen mit einem Hotelangestellten. Sie unterhielten sich leise. Helen lachte freundlich, winkte dem Hotelangestellten hinterher und ging mit zwei Einkaufstüten unterm Arm zu einer weißen Säule, die im Vorgarten zwischen Oleanderbüschen stand. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete sie ein Fach in der Säule, holte einen Packen Post heraus und blätterte ihn durch.