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«Beantworten Sie einfach meine Frage. Was könnte es gewesen sein?»

«Sagen Sie’s mir.»

«So wie Sie das schildern und in Verbindung mit dem, ich zitiere, leichten Alkoholgeruch beim Erwachen, könnten das vielleicht Destilliergeräte gewesen sein?»

Carl schüttelte den Kopf. «Kann sein», sagte er gekränkt. «Kann sein.»

«Wissen Sie, wie Alkohol hergestellt wird?»

«Aus Früchten. Durch Vergären.»

«Genauer?»

«Wenn sie vergoren sind, erhitzt man das … man erhitzt irgendwas und siebt dann den Alkohol raus. Oder das Wasser aus dem Alkohol. Und dann … am Ende muss das wieder verdünnt werden, glaube ich.»

«Sollen wir eine kurze Pause machen? Sie sehen erschöpft aus.»

«Nein», sagte Carl entschieden. «Nicht nötig.»

«Oder soll ich zwischendurch mal einen Blick auf Ihre Kopfwunde werfen?» Dr. Cockcroft schenkte sich einen weiteren Bourbon ein. «Ich bin zwar nur Psychiater, aber einiges kriegt man ja doch mit im Studium.»

Mit dem Glas in der Hand begann er, Carls Kopfverband abzuwickeln.

«Bleiben Sie einfach sitzen. Ich klapp das hier ganz vorsichtig auf … ja. Aha, aha. Das ist ja alles schon ganz schön verkrustet. Aber vorher gereinigt und zusammengeheftet, was? Sieht ja halbwegs professionell aus. Halten Sie mal das Glas. Und wenn ich hier reindrücke? Aua. Ja. Das tut natürlich weh. Und hier? Aber wirkt doch insgesamt ganz stabil. Ein Bluterguss, vielleicht ein wenig gesplittert, aber nicht sehr schlimm. Ich kleb das mal wieder zu. Schlimm ist es, wenn’s ins Hirn reinblutet. Aber wenn’s reinblutet, sind Sie 48 Stunden später auch tot. Sodass man das im Umkehrschluss auch wieder ausschließen kann.»

Mit umsichtigen, wenn auch ein wenig ungelenken und betrunkenen Handbewegungen versuchte Dr. Cockcroft, den Verband wieder in die alte Form zu bringen, während er über Epiduralblutungen dozierte und sich schließlich erneut dem Bourbon zuwandte.

«Ich würde mir da keine allzu großen Sorgen machen», sagte er. «Auch wenn es die Eitelkeit verletzt: So ein Gehirn darf man sich nicht übermäßig kompliziert vorstellen. Haben Sie schon mal einen Computer gesehen? Ein sogenanntes Elektronengehirn? Nein, natürlich nicht. Kenn ich mich zufällig ein bisschen aus damit aus meiner Zeit am MIT … sagt Ihnen die Dreyfus-Affäre was?»

Dr. Cockcroft hielt plötzlich inne, beide Hände noch leicht erhoben von den Anführungszeichen, die er um das Wort «Elektronengehirn» herum in die Luft gemalt hatte, beugte sich vor und betrachtete die blau schillernde Lebensform, die auf dunklen Tarsen vor seiner Nase entlangkrabbelte. Er hielt einen Finger gegen die Tischplatte, wartete, bis der Käfer das Hindernis erklommen hatte, und schnippte ihn dann auf den Teppich. Durch widerborstige Sisalfasern ruderte das Insekt sofort erneut auf den Tisch zu und begann, ihn abermals zu erklimmen.

«Sisyphus. Oder Sophokles, wie heißt das noch mal?»

«Sisyphus», sagte Carl.

Den Kopf tief gesenkt saß Dr. Cockcroft da. Ein verborgenes Grinsen zog seinen Vollbart zu breiten Hamsterbäckchen auseinander.

«Ein merkwürdiges Land. Mit merkwürdigen Insekten. Aber was ich eigentlich sagen wollte: dass ich während meines Studiums immer in der Kybernetik war. Ohne Ahnung davon zu haben, natürlich. Ich kam ja aus der Humanwissenschaft. Allein diese Computer fand ich sehr faszinierend. Und die Leute da auch, und, um ehrlich zu sein, ich war verliebt in ein Mädchen, eine angeblich hochbegabte Ingenieurin. Wenn ich zu sehr abschweife, sagen Sie Bescheid … Jedenfalls sah ich sie einmal im Kampf mit einem Computer. Und das war mein erster schockierender Blick in das Innenleben einer solchen Maschine. Eine staubige Häuserschlucht grüner und brauner Platinen, von einem Blutkreislauf bunter Kabel umschlungen. Einen Fuß auf der umgestürzten Kiste, und mit dem Schraubenzieher riss sie Kabel aus der Verankerung. Brach Rechtecke aus der kristallinen Struktur, lötete irgendwas irgendwohin und zerrte alles zurück auf seine schwankenden Stelzen. Das dauerte keine dreißig Sekunden, dann lief der Rechner wieder.»

Dr. Cockcroft streckte den Arm aus, schnipste den Käfer ein zweites Mal vom Tisch und suchte den verständnislosen Blick seines Patienten. «Was ich damit sagen wilclass="underline" So oder so ähnlich muss man sich auch das Gehirn vorstellen. Man denkt sich das eigene Organ notgedrungen als etwas höchst Kompliziertes und Fragiles, weil man seine Äußerungen — ob zu Recht oder zu Unrecht — als kompliziert und fragil empfindet. Aber auf der rein physischen Ebene gibt es keine Entsprechung zu dieser Empfindlichkeit, und man erzielt gute Resultate mit Schraubenzieher und Kneifzange. Langer Rede kurzer Sinn: Ich würde mir über das Loch in Ihrem Kopf da keine allzu großen Gedanken machen. Das Gefährlichste sind Blutungen, und die —»

«Was ist die Dreyfusaffäre?»

«Ach, das haben Sie sich gemerkt? Sie passen ja auf wie ein Luchs.»

Verwirrt blickte Dr. Cockcroft zwischen den drei ihn umgebenden, disparaten Entitäten hin und her: dem zum dritten Mal eilig auf das Tischbein zukrabbelnden Käfer, dem fragenden Patienten und dem mit rötlicher, blasser Haut überspannten Greifgerät aus Knochen, Sehnen, Nerven und Muskeln, das zitternd ein Glas Bourbon hielt. Er führte den Bourbon zum Mund.

«Dreyfus hat mit unserer Sache nichts zu tun!», erklärte er bestimmt. «Nur dass der Rechner, von dem ich gerade sprach, natürlich ein Schachrechner war. Richard Greenblatt. Das sagt Ihnen jetzt nichts. Aber der hat vor fünf oder sechs Jahren damit angefangen. Mit ein paar Leuten haben sie versucht, einer dieser Maschinen Schach beizubringen. Nutzlos, aber Informatiker sind so. Und Dreyfus — Hubert Dreyfus — war ein Philosoph am MIT. Der kommt von Heidegger und hat es nicht so mit der Elektronik. Schreibt seit vielen Jahren Bücher, in denen er erklärt, warum es künstliche Intelligenz nicht gibt, niemals geben wird, und warum jeder Achtjährige besser Schach spielt als ein Lochkartensystem. Damit nervt er die Kollegen von der Computerwissenschaft natürlich, und da hat dann Greenblatt den guten Hubert irgendwann aufgefordert, gegen seinen Rechner anzutreten. Soweit ich mich erinnere, hörte der auf den schönen nom de guerre Mac Hack. Und dieser Mac Hack fegte die Philosophieabteilung vom Brett, dass es nur so eine Art hatte. Auf diese Weise erlangte Dreyfus zweifelhafte Unsterblichkeit als erster Mensch, der dümmer war als ein paar Kupferdrähte. Nicht ganz so toll wie der erste Mensch auf dem Mond, aber immerhin. Seine Bücher gegen die Maschinenwelt sollen seitdem noch eine Spur kompromissloser geworden sein, habe ich mir sagen lassen …»

In dieser Weise fuhr Dr. Cockcroft noch eine Weile zu reden fort. Carl, der nicht wusste, warum der Arzt ihm das alles erzählte, der vor allem nicht wusste, ob die sonderbaren Studienerinnerungen seines Gegenübers noch Teil der Untersuchung waren oder nicht (und, wenn ja, welchem Zweck sie dienten), kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, der Psychiater versuche hier auf ebenso verschlungene wie schlüpfrige Weise, ihn in eine überaus durchsichtige Falle zu locken.

«Was hat das mit mir zu tun?», unterbrach er schließlich das Gerede.

«Nichts!», erklärte Dr. Cockcroft fröhlich, nahm einen großen Schluck Bourbon und stellte das Glas schwungvoll zurück auf den Tisch. Mit weit aufgerissenen Augen sah er seinen Patienten an.

«War das Absicht?», fragte Carl.

«Was?»

«Das da.» Er deutete auf den Bourbon.

Dr. Cockcroft kniff ein Auge zusammen, ließ das andere weit offen und linste von oben durch den flüssigen Bernstein hindurch auf den Käfer. Ein mit dem Knöchel auf die Tischplatte geklopftes Morsezeichen, und das in einer Mulde unter dem Glas eingeschlossene Insekt krabbelte einen panischen kleinen Kreis. Ein Lupfen des gläsernen Gefängnisses — «Pardon!» — , und der Sechsbeiner hastete über die Tischplatte, plumpste über die Kante und raschelte unter einen Stapel Zeitungen.