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«Also warum erzählen Sie mir das alles?», fragte Carl.

«Warum ich Ihnen das erzähle? Weil ich diese Dinge hochinteressant finde! Und weil ich glaube, wir gehen herrlichen Zeiten entgegen.» Mit beiden Zeigefingern pickte er rechts und links gegen seine Schläfen und führte parallel dazu ein Augenbrauenballett auf. «Früher oder später wird man das, was Sie in Ihrem Kopf da mit sich rumtragen und was Sie heute noch leiden lässt, durch zwei integrierte Schaltkreise und ein paar bunte Drähte ersetzen. Bildhübsche Studentinnen werden Sie mit einem Fußtritt, Hammer und Kneifzange von Ihrem Elend erlösen, und auch die Frage der Unsterblichkeit … aber ich sehe, das alles interessiert Sie nicht besonders. Gut. Ist ja auch fröhliche Zukunftsmusik. Heute müssen wir in die Abgründe Ihrer Gehirnwindungen noch einmal mit herkömmlichen Mitteln hinabtauchen, sosehr es auch schmerzt.»

Er nahm seinen Notizblock wieder auf, blätterte ein paar Seiten um und hielt plötzlich inne: «Wobei mir einfällt, erwähnten Sie schon, warum Sie eigentlich hier sind? Ich meine nicht die Amnesie. Aber Sie wollten ja erst nicht zum Arzt. Und jetzt — ist da irgendetwas vorgefallen in der Zwischenzeit?»

Carl schüttelte den Kopf. «Außer dass ich Ihren Zettel gefunden habe. Und dass es mir nicht gutgeht. Ich bin unruhig und werde immer unruhiger. Ich kann kaum schlafen. Ich träume entsetzlich.»

«Ach ja.»

«Letzte Nacht hab ich praktisch gar nicht geschlafen. Ein einziger Albtraum.»

«Verständlich. Dann mal zurück zu der Frage —»

«Soll ich Ihnen erzählen, was ich geträumt hab?»

«Nein, müssen Sie nicht. Wir können weitermachen.»

«Interessiert es Sie nicht?»

«Sie denken, weil ich Psychiater bin.» Dr. Cockcroft biss auf den Resten seines Daumennagels herum. «Wenn’s Sie erleichtert, erzählen Sie’s.»

Carl zögerte einen Moment und gab dann seinen Traum von der riesigen, fetten Ziege wieder. Der Ziege, die plötzlich Helens Miene hatte. «Also, Helens Gesicht», korrigierte er. Beim Erzählen wurde Carl immer unsicherer, weil er spürte, dass er nicht ansatzweise beschreiben konnte, was das Grauenerregende des Traums gewesen war. Bei Licht betrachtet wirkte alles ganz harmlos.

«Und jetzt wollen Sie eine Deutung von mir?», fragte Dr. Cockcroft. «Was möchten Sie hören? Dass Sie offenbar Angst haben vor der amerikanischen Touristin, die Sie aufgenommen, gesund gepflegt, mit Geld ausgestattet, verbunden und zu mir geschickt hat? Dass das Gesicht dieser Frau Ihnen fremd ist, so fremd wie das jeder anderen Person? Dass Sie in die Fänge einer raffiniert maskierten Betrügerin geraten sind?» Er griff mit beiden Händen in seinen Vollbart und zerrte daran, als müsse er seine Echtheit beweisen. «Eine Spionin in geheimer Mission? Ihre langjährige Ehefrau, die Ihnen unter Ausnutzung der Umstände eine herrliche Komödie vorspielt? Ich bin zwar Psychiater, aber kein Freund der Wiener Kloake. Wenn Sie meine bescheidene Ansicht wissen wollen: Träume sind Feuerwerke in unserem Hirn. Sie haben keine Bedeutung. Das ist auch der Stand der Wissenschaft.»

«Das ist nicht sehr ermutigend», sagte Carl nach einer längeren Pause.

«Alles, was die moderne Hirnforschung herausfindet, ist nicht sehr ermutigend», erwiderte Dr. Cockcroft begeistert. «Hat es übrigens mit dem Wort Miene etwas auf sich?»

«Was?»

«Sie ersetzten es sofort durch Gesicht. Nein? Dann noch mal zurück zu dieser amerikanischen Touristin. Helen. Der zu vertrauen Sie offenbar Schwierigkeiten haben. Haben Sie eine intime Beziehung?»

«Was?»

«Üben Sie den geschlechtlichen Verkehr miteinander aus?»

«Was geht Sie das an?»

«Ich bin Ihr Arzt. Kohabitieren Sie?»

«Was hat das mit meiner Amnesie zu tun?»

«Können Sie sich an Intimitäten nicht erinnern?»

«Nein. Weil es keine gab.»

Dr. Cockcroft nickte, pochte das Ende des Füllers seitlich gegen seinen Hals und sah Carl lange ins Gesicht. «Eine letzte Frage. Versuchen Sie einmal, ohne Gegenfrage zu antworten. Sind Sie vollkommen sicher, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind?»

«Wäre ich sonst hier?»

«Ich frage nicht ohne Grund.»

«Ja!», sagte Carl verzweifelt.

32. DISSOZIATION

Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt und sich nicht bemüht, es zu verbergen.

Kafka

«Ihr Krankheitsbild ist, vorsichtig ausgedrückt, außergewöhnlich. Ich weiß, man soll mit Diagnosen zurückhaltend sein, aber für angemessene Zurückhaltung fehlt uns wohl die Zeit. Erstens sind wir hier nicht im klinischen Bereich, wo Sie eigentlich hingehören. Zweitens wage ich zu bezweifeln, dass es im Umkreis von fünfhundert Kilometern einen adäquaten klinischen Bereich für Sie gibt. Und drittens haben Sie eine sehr unsichere Lebensgrundlage und scheinen darüber hinaus in Dinge verstrickt, die eine weitere Behandlung erschweren könnten. Immer vorausgesetzt, Ihre Angaben stimmen. Zuletzt bin ich auch kein ausgemachter Spezialist auf dem Gebiet der Amnesie, ich bin eher so Feld-, Wald- und Wiesenpsychiater. Ich weiß einiges, aber sicher nicht alles. Ich schieße jetzt mal ein bisschen ins Blaue, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Und in der Hoffnung, dass Sie mir helfen.»

Er blätterte in seinen Notizen. «Sie haben keine großen funktionellen Ausfälle, das merken Sie selbst. Sie sind zeitlich und räumlich gut orientiert. Ihr Weltwissen ist intakt und befindet sich auf dem Stand eines Mittelschülers. Sie können sich an alle Geschehnisse seit Ihrem — nennen wir es Unfall — erinnern, und Sie scheinen keinerlei anterograde Amnesie zu haben, wie sie für Schädelhirntraumata typisch wäre. Ihr Erinnerungsdefizit bezieht sich ausschließlich auf die Vergangenheit. Und da auf Ihren autobiographischen Zusammenhang. Was nicht ungewöhnlich ist. Funktionswissen und prozedurale Fähigkeiten bleiben oft ganz unangetastet, es schwindet das Autobiographische nach dem Ribot’schen Gesetz: last in — first out. Man vergisst die Zeitspanne unmittelbar vor dem Trauma, Tage, Wochen oder Jahre. Es sind Fälle bekannt, wo Patienten sich zuletzt an ihren siebenten Geburtstag erinnern. Es gibt auch die Fälle, die glauben, noch immer sieben Jahre alt zu sein. Da ist dann einiges zerschossen. Was allerdings äußerst selten, und äußerst selten jetzt im Sinne von gegen null ist, ist, dass der Zeitraum das gesamte Leben umfasst und die Identität. Dass einer seinen Namen nicht mehr weiß. Das ist die Art und Weise, wie Amnesie für gewöhnlich in der Fiktion auftaucht, in Unterhaltungsfilmen. Man kriegt einen Schlag auf den Kopf, und die Identität ist weg. Man kriegt noch einen Schlag, und sie ist wieder da. Asterix und Obelix.»

Dr. Cockcroft lehnte sich in seinen Sessel zurück, verknäulte die Finger ineinander und lächelte schwach.

«Und?»

«Und? Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ihre Krankheit trägt Züge des Inexistenten.»

Im Strafraum hatte sich eine Menschentraube um den Schiedsrichter gebildet, dunkel gekleidete Spieler protestierten. Weiß gekleidete Spieler schubsten dunkel gekleidete. Der Linienrichter rannte quer übers Feld.

«Was wollen Sie damit sagen?», fragte Carl. «Dass ich simuliere?»

«Das habe ich nicht gesagt.» Dr. Cockcroft riss seinen Blick vom Fernseher los. «Ich habe gesagt: Ihre Krankheit trägt Züge des Inexistenten. Soll heißen, man darf Zweifel haben an gewissen Dingen. Woran ich nicht zweifle, ist, dass Sie einen … wie soll ich sagen? Einen ernsthaften Schaden haben. Aber ich kann nicht sagen, was für einen. Simulation klingt im ersten Moment natürlich sehr negativ, bedeutet aber in der Regel nicht, dass da jemand zum Vergnügen einen Hirnausfall vortäuscht. Das kann auch eine Notwendigkeit sein. In ausweglosen Stresssituationen etwa. Die moderne Wissenschaft kennt Simulationen, die knapp unter der eigenen Bewusstseinsschwelle ablaufen. Ganser zum Beispiel … wobei das auf Sie nicht zutrifft. Und da sind wir dann beim Problem. Es trifft auf Sie auch sonst nichts zu: Altersdemenz. Vollverblödung. Korsakow. Von so zweifelhaften Dingen wie hysterischer Dissoziation mal ganz abgesehen.»