Millimeterdünn stand die Mondsichel zwischen raketenförmigen Minaretten, als die beiden Männer gegen Mitternacht vors Haus traten. Die Luft war warm und trocken. Dr. Cockcroft hatte die Sache mit den Ärmeln aufgegeben und sich den Kittel nachlässig über die Schultern geworfen. Er wirkte damit weder wie ein Arzt noch wie ein Maler, eher wie der verrückte Physiker in schlechten Filmen, patschte seinem Patienten jovial auf die Schulter, ihn dabei einladend, jederzeit wiederzukommen, und murmelte etwas von einer geheimnisvollen Wüstenkrankheit, die man nun wahrscheinlich bald Cockcroft-Syndrom nennen würde.
«Wie hieß Ihr Vorgänger?», fragte Carl.
«Bitte?»
«Wie hieß der?»
«Ach nein, ach nein. Glauben Sie mir … Sie sind doch kein Österreicher. Er soll außerdem klein und drahtig gewesen sein. Sie sind doch eher so mittelgroß und drahtig. Geiser. Oder Geisel. Ortwin Geisel.»
Er winkte Carl mit steifer Herzlichkeit hinterher, als dieser blicklos und gesenkten Kopfes die Straße überquerte. Auf der anderen Seite trat Carl in den Schatten eines Hauseingangs und drehte sich um. Er sah Cockcroft leicht schwankend im Haus verschwinden. Nach wenigen Minuten erlosch das Licht in der Praxis. Kurz darauf konnte Carl einen vollbärtigen Schattenriss auf einer der Jalousien im ersten Stock ausmachen. Er wartete noch eine Weile, hastete dann zurück über die Straße und zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche. Die Tür zur Praxis hatte ein Sicherheitsschloss. Carl hatte vier Sicherheitsschlüssel an seinem Bund. Er versuchte, sie nacheinander leise ins Schloss zu stecken. Keiner passte.
Es war eher Erleichterung als Enttäuschung.
Helen, die am Bungalow wartete, legte ihm einen Arm um die Schulter. Carl interpretierte es zuerst als Geste der Zärtlichkeit, dann merkte er an ihrem Gesichtsausdruck, dass es keine Zärtlichkeit war. Sie stützte ihn. Er schwankte.
«Und?», fragte sie.
«Weiß nicht», sagte er.
«Hattest du Schwierigkeiten, ihm zu vertrauen?»
«Genau dasselbe hat er mich auch gefragt.»
«Ob du Schwierigkeiten hast, ihm zu vertrauen?»
«Ob ich Schwierigkeiten hätte, dir zu vertrauen.»
«Und? Hast du?»
Carl antwortete nicht.
«Wirkte der denn wenigstens einigermaßen kompetent?», fragte Helen, als sie nebeneinander im Dunkel im Bett lagen. «Oder eher so wie sein Zettel?»
Abermals lange keine Antwort. «Er ist auf jeden Fall kein Scharlatan», sagte er, als Helens Atem schon regelmäßig wurde. «Ein Scharlatan hätte sich mehr Mühe gegeben, wie ein Arzt zu wirken.»
34. DIE BANANE
God made some men small, and some men large; but Colt made them all equal.
Die Frau, die vertraute Frau, die Ihnen etwas vormacht … die langjährige Ehefrau, die Ihnen unter Ausnutzung der Umstände Komödie vorspielt … wie hatte Dr. Cockcroft das genau formuliert? Es war natürlich Unsinn. Carl wusste, dass es Unsinn war. Aber die Worte quollen auf in dem schrankenlosen Vakuum seines Hirns und stiegen als schillernde Blasen durch die verhängten Sphären seines Bewusstseins.
Ihre erste zufällige Begegnung, eine Tankstelle in der Wüste. Eine amerikanische Touristin in Shorts, ein freundlicher Bungalow. Seine Nicht-Ehefrau, seine langjährige Nicht-Ehefrau Helen, der zu misstrauen er keinen Grund hatte, die sich rührend um ihn gekümmert hatte. Sie hatte seine Sachen durchsucht. Und er machte sich kein Gewissen daraus, die ihren ebenfalls zu durchsuchen.
Er nahm sich zuerst den Koffer vor und durchstöberte dann den gesamten Bungalow. Die Unterwäsche und einige Pullover hatte Helen nachlässig in den Schrank geworfen, der Rest befand sich noch im Koffer oder im Umkreis eines Meters davon. Zwei Sportjacken, Socken, ein grünes Abendkleid aus Seide. Gelbe Kleidung, weiße Kleidung, ein leerer Notizblock. Ein winziges Reisenecessaire, Nadel und Faden. Keine Schminkartikel, keine Pflegeprodukte. Eine amerikanische Zeitung, offenbar ungelesen. Ein Ausriss aus einer der hiesigen Zeitungen, in dem empört die Verstrickung des Landes in die französische Atomspionage dementiert wurde, ohne dass man erfuhr, wer diese Vorwürfe erhoben hatte und warum. Ein Ausriss aus einer englischsprachigen Zeitung mit den Ergebnissen der amerikanischen Baseball-Liga. Auf der Rückseite ein Artikel über Harold Pinter. Eine Lesebrille, deren einer Bügel mit Heftpflaster am Scharnier befestigt war, ein Paar Handschellen, ein größeres Paar Handschellen, also vielleicht Fußschellen (falls das das Wort war), ein Schlagstock, ein Morgenrock und zwei Paar Jeans. Beachball-Schläger inklusive Hartgummiball. Und zuunterst im Koffer ein massives Holzkästchen von etwa der Größe einer großen Zigarrenschachtel, das auch mit stabilen Fingernägeln nicht zu öffnen war. Im Innern ein anscheinend nicht symmetrischer, schwerer Gegenstand. Um das Kästchen herumgewickelt das knallgrüne Oberteil eines verirrten Bikinis, das Carl gerade zurück in den Koffer schnipste, als er ein Geräusch hinter sich hörte.
«Ist das die Retourkutsche?» Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte die Besitzerin des Bikinis im Türrahmen, lächelnd. Neben sich eine Tüte mit Einkäufen.
Carl fand keine Zeit, seinen empörten Gesichtsausdruck durch eine Miene überraschter Unschuld zu ersetzen.
«Was bist du, Polizistin?», rief er. Er hielt Handschellen und Schlagstock hoch und sah seine Ganz-sicher-nicht-Ehefrau wütend an, und die Ganz-sicher-nicht-Ehefrau sah ihn an wie einen kleinen Jungen, der über allerhand Geheimnisse aufgeklärt werden will. Carl verstand ihren Blick nicht, er verstand auch ihre Gesten nicht, und da wurde Helen explizit und klärte ihn darüber auf, dass manche Bienchen ihre Blümchen auch in Handschellen bestäuben, sowie darüber, dass das längliche Plastikgerät, das er da in der Hand hielt, kein «Schlagstock» war. Sie redete vom freien Amerika und benutzte das Wort modern.
Im ersten Moment war Carl stumm. Im zweiten sah er sich mit den ominösen Gegenständen in beiden Händen dastehen und legte sie vorsichtig in den Koffer zurück. Mit flackerndem Blick sagte er: «Und das Kästchen krieg ich nicht auf.»
«Eine.357er.»
«Was?»
«.357er Magnum», sagte Helen und lächelte mit ihrer verrutschten Mimik.
«Das glaub ich nicht.»
Helen warf das Kästchen achselzuckend in den Koffer, klappte ihn zu, schob Carl aus dem Schlafzimmer und setzte sich an den Frühstückstisch.
«Das glaub ich nicht», wiederholte Carl. Er drehte seinen Stuhl herum. Helen schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, griff eine Banane aus der Obstschale, richtete sie auf ihn und sagte: «Ich geh doch nicht unbewaffnet unter euch Brüder.»
35. RISA, GENANNT KHACH-KHACH
These bullets are not meant to kill. They are mainly used to create serious wounds, and to incapacitate the enemy. After all, seriously wounded soldiers take the enemy more time and money to treat than dead soldiers.
Der Mann, der ganz hinten allein im Dunkel der Bar saß, hieß Risa, genannt Khach-Khach. Er hatte ein nervöses, aufgewecktes Gesicht, über das von der Stirn bis zum Kinn drei senkrechte Narben liefen. Er mochte zwanzig Jahre alt sein. Er war Linkshänder.
Im Alter von sechs Jahren hatte er mitangesehen, wie seine Eltern, seine Großeltern, vier Schwestern, ein Schwager und dessen sämtliche Verwandte, dazu zwei andere Tuareg-Familien, eine Handvoll Rebellen und einige Unbeteiligte in einer Reihe in den Wüstensand gelegt und angepflockt worden waren. Dann war ein Armeepanzer über ihre Körper gerollt, die wie Zahnpastatuben aufplatzten. Bis zum zehnten Lebensjahr wuchs Risa in einem Lager auf, nordöstlich des Leeren Viertels. Zwei Sommer lang besuchte er eine Armenschule, in der ein dicker Spanier kostenlosen Unterricht erteilte. Risa war der intelligenteste Schüler, den die Schule jemals gesehen hatte. Er lernte Lesen und Rechnen und kam zu einem Gerber in die Lehre. Die Werkstatt des Gerbers lag im Schatten der Müllberge, und eines Tages stand ein riesiger Schwarzer in bunten Gewändern und mit viel Goldschmuck an den Fingern in der Tür. Der Gerber kroch vor ihm auf dem Lehmboden, suchte alles Geld, das er hatte, zusammen und legte es ihm zu Füßen. Der Schwarze nahm das Geld, und er nahm auch Risa mit. Im Keller seiner prächtigen Villa quartierte er den Jungen ein. Er kaufte ihm Kleider und gab ihm zu essen. Ein Jahr lang lernte Risa den Umgang mit Geschäftsleuten und Waffen. Er machte Kurierdienste und besorgte die Buchhaltung. Mit dreizehn hatte er seinen ersten Menschen getötet.