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Er wies Canisades schnaufend einen Stuhl an und ließ dann seine berühmte Generalschweigminute folgen. Canisades zählte innerlich mit. Sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig. Bei neunundfünfzig zog der General drei gefaltete Papiere aus einer Ablage und warf sie vor sich auf den Tisch mit einem Gesichtsausdruck, der klarmachte, dass er kein Mitglied der alle Weltregionen umspannenden Sekte der freundlich-heiteren Dicken war. Er gehörte zur anderen Kategorie.

«Und streite das gar nicht erst ab! Asiz hat sie in deinem Schreibtisch gefunden.»

Canisades stritt es nicht ab. Er erkannte die Papiere auf den ersten Blick, auch wenn er keine Ahnung hatte, worin der mit ihnen verbundene Vorwurf lag. Ein paar albern zweckentfremdete Vordrucke aus der Kolonialzeit — deshalb hatte der General ihn rufen lassen? Aber nach neunundfünfzig Sekunden schien es ihm ratsam, sofort in die Defensive zu gehen. «Ich kann das erklären, Entschuldigung. Polidorio und ich, die Formularnacht, die lange Nacht der Akten …»

«Sonderermittler des Tugendkomitees! Seid ihr wahnsinnig? Wer hat sich diesen Schwachsinn ausgedacht?»

«Wir beide», sagte Canisades. «Polidorio.»

«Und wer war noch dabei?»

«Nur Polidorio.»

«Erzähl mir keinen Mist! Es sind drei Ausweise.»

Berechtigte Frage. Wobei die richtige Antwort gelautet hätte: Es waren einmal vier.

«Es war ein Jux», versuchte Canisades es mit der schwierigen Wahrheit, «und wir haben gar nichts damit gemacht. Wir haben die den Nutten gezeigt, mehr nicht.»

«Den … Nutten. Aha.» Der General machte sich Notizen. Er hatte ein schwaches Kurzzeitgedächtnis und ertrug es nicht, wenn Gespräche sich verzweigten. Wenn ihm in einer Unterhaltung Fragen und Folgefragen kamen, schrieb er sie auf, um sie hinterher Punkt für Punkt abzuarbeiten.

«Ihr seid hier die untersten Chargen», sagte er drohend, und Canisades fuhr rasch fort: «Wirklich nur ein Scherz. Wir waren überarbeitet und müde, Sie wissen doch, die ganze lange Nacht, die Berge von Papier … und die sind da aus einer Hängeregistratur gefallen. Mit ganz viel anderem Zeug. Wir haben ja auch lauter andere Sachen gemacht. Machen müssen. Allein, um wach zu bleiben. Zwischendurch gab es noch einen Stromausfall —»

«Was für andere Sachen?» Der Körper des Generals schwappte nach vorn.

«Andere Sachen … irgendeinen Quatsch halt. Wir mussten ja bis zum Morgengrauen durchhalten und —»

«Was für andere Sachen!»

«Getrunken, Witze gemacht … Schneeballschlachten mit Papier.» Das Rennen auf den rollenden Aktenschränken ließ Canisades vorsichtshalber aus. «Und dann zufällig dieses Zeug vom Tugendkomitee. Einen IQ-Test haben wir auch gemacht. Und während der ganzen Zeit haben wir praktisch im Dunkeln gesessen, weil der Schlüssel für den Stromkasten —»

«Was für ein IQ-Test? Seit wann gibt es hier einen IQ-Test?»

«Der flog da auch rum. So ein Test, wo man die Intelligenz misst wie mit dem Lineal.»

«Ergebnis?»

«Ich 130, Polidorio 102.»

«Ergebnis! Seid ihr jetzt intelligent oder nicht?»

«Also, na ja», sagte Canisades, «so mittel. Nichts Besonderes.»

«So mittel! Weißt du, was ich mit dir und deinem mittel machen kann?»

Wütend schaute er auf den Schreibtisch vor sich. Er hatte den Faden verloren, aber bevor Canisades die nächste Nebelkerze werfen konnte, sagte der Generaclass="underline" «Und was sind das überhaupt für bescheuerte Namen? Adolphe Aun!»

«Hat Polidorio sich ausgedacht.»

«Ist das Deutsch?»

«Keine Ahnung.»

«Und hier, Didier … und Bertrand, ist das dein Ernst? Seid ihr schwul? Seid ihr ein Schwuchtelpärchen?»

«Tut mir leid, Chef.»

«Es tut dir leid, es tut dir leid!» Mit einem Mal änderte sich der Gesichtsausdruck des Generals, und milde blickend fetzte er die Ausweise in kleine Schnipsel. «Du wirst mir jetzt einen Gefallen tun. Wirst du das?»

Also darauf lief es hinaus.

«Selbstverständlich.»

«Was weißt du von diesem Amadou? Der Mörder, der aus dem Transporter ausgebrochen ist.»

«Da kümmert sich Karimi drum.»

«Das ist mir klar. Deine Einschätzung.»

«Pfff.» Canisades dachte angestrengt nach. Es schien ihm angebracht, sich vorsichtig von seinem Kollegen zu distanzieren. «Karimi macht halt, was er immer macht. Er hat jetzt einen zweiten Bulldozer angefordert, um das Salzviertel zusammenzufahren.»

«Einschätzung!»

«Wohl mehr zu seinem Privatvergnügen. Würd ich sagen. Dieser Amadou ist doch viel zu bekloppt, um länger als fünf Minuten irgendwo unterzutauchen.»

Damit hatte Canisades offensichtlich einen Treffer gelandet, und etwas freundlicher fuhr der General fort: «Freilich ist Amadou zu bekloppt. Aber das ist genau das Problem. Weil er nämlich bekloppt ist, hat er nicht gemerkt, wie bekloppt er eigentlich ist. Von allein wäre der doch nie aus dem Transporter rausgekommen. Und er war leider auch bekloppt genug, nicht zu merken, dass er einen Helfer hatte. Mit anderen Worten, er ist nicht nur unseren Gendarmen entwischt, sondern auch unserem … seinem … wie auch immer. Wir wissen seit 48 Stunden nicht mehr, wo er ist. Amadou ist unauffindbar. Und was ich jetzt will und was Karimi nicht begreift, ist … dass Amadou auch weiterhin unauffindbar bleibt, capisce?»

Die beiden Schlitze im Gesichtsfleisch verengten sich. Canisades nickte, hielt sich den Zeigefinger an den Hinterkopf und drückte den Daumenabzug.

«Nein, nein, nein!», rief der General. «Unauffindbar im Sinne von unauffindbar. Red ich Chinesisch oder was? Karimi begreift es nicht, und du begreifst es auch nicht? Der arme Junge kann doch nichts dafür, dass er … da kann er doch nichts für. Der ist in traurigsten Verhältnissen aufgewachsen, den hat das Leben hart angefasst, der hat sich nie was zuschulden kommen lassen. Das ist doch nicht so schwer zu begreifen! Der hat ganz in Frieden in Tindirma gelebt und seine Ziegen gehütet, bis diese Hippiegammler da eingezogen sind und ihn provoziert haben. Lange hat Amadou sich das ruhig mitangesehen … aber irgendwann ist ihm dann doch der Kragen geplatzt. Wie jedem normalen Menschen. Und er hat ein bisschen überreagiert. So könnte man das formulieren. Nur dass das ein feiner Kerl ist, eigentlich. Der Amadou. Capisce?»

«Sie meinen —»

«Ich meine, der tut uns nichts. Ganz einfach. Und wir tun ihm auch nichts. Und dafür bist du jetzt zuständig.»

«Und Karimi?»

«Karimi gibt den Fall ab. Hat ihn schon abgegeben. Und ich erwarte … hast du wenigstens begriffen, was ich von dir erwarte?»

«Nichtstun.»

«Da hat sich der Intelligenztest ja doch gelohnt.»

«Muss ich dazu noch irgendwas wissen?»

«Nein.» Der General patschte seine fetten Hände zusammen. «Musst du nicht. Wobei, kann ich dir auch sagen, ist wurscht. Das hat keine besonders geheimnisvollen Gründe. Aber wie sich vor ein paar Tagen rausstellte, ist Amadou der Enkel der Putzfrau des Innenministers. Oder des Staatssekretärs im Innenministerium oder was auch immer. Geht uns nichts an. Hohes Tier … und wenn man mir eine Anweisung gibt, dann halte ich mich daran. Capisce? Nicht wie Karimi, der blöde Hund. Und deshalb brauchen wir jetzt jemand, der sich ebenfalls daran halten kann. Dann ist die Sache nämlich ganz einfach. Du nimmst dir ein paar Leute und begibst dich auf die Suche nach Amadou. Der in Wahrheit natürlich auch überhaupt nicht bekloppt ist, sondern durchtrieben wie alle diese Ziegenhirten. Und wie sucht man so einen? Man fährt ein bisschen in der Gegend rum und stürmt ein paar Häuser. Capisce? Und vor allem achtest du darauf, dass du einen Tross von Presseleuten hinter dir herschleifst. Die beiden Amis sind noch immer im Sheraton, der eine Brite auch — den kennst du, oder? Und die sollen ordentliche Aufnahmen davon machen. Und dann nimmst du mal einen fest, oder nimm gleich ein Dutzend fest, und zwar solange, bis die Presseschlampen genug haben. Und den Rest überlässt du mir. Das Einzige, worauf du achten musst, ist, dass Amadou sich nicht im Salzviertel versteckt. Weil, da ist er ja aufgewachsen. Da kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, weshalb jeder bescheuerte Hilfspolizist wie Karimi ihn da natürlich als Erstes vermuten würde. Aber weil Amadou ein so durchtriebener Kerl ist, wie sich gerade rausgestellt hat, versteckt er sich genau da nicht, capisce?»