«Capisce.»
«Ein anderer Grund ist: Nachdem Karimi gestern mit seinen Bulldozern im Salzviertel war, hat es da schon wieder einen kleinen Aufstand gegeben. Das ist nicht gut. Sag ich mal. Da sind jetzt schon mehr Leute gestorben, als Amadou auf dem Gewissen hat. Was für dich bedeutet: Das komplette Viertel und dahinter in die Wüste rein, Richtung Tindirma, das Leere Viertel, das Salzviertel, die ganze Gegend ist tabu. Haben wir uns da verstanden?»
Canisades nickte beflissen. Er konnte sich nicht vorstellen, woher die Protektion für den schwachsinnigen Amadou auf einmal kam. Das mit der Verwandtschaft mit dem Innenminister war natürlich Unsinn. Irgendein dreckiger Ziegenhirte aus Tindirma war nicht verwandt mit dem Innenminister und auch nicht mit dessen Putzfrau. Wenn er es gewesen wäre, hätte er es schon beim ersten Verhör der Polizei ins Gesicht geschrien, anstatt sich lange mit seiner Unschuld herumzuplagen. Wahrscheinlich hatte Amadous Familie wieder irgendwo ein bisschen Geld aufgetrieben. Und das floss jetzt wohin? An Karimi anscheinend nicht. Direkt an den General? Oder tatsächlich an jemanden aus dem Innenministerium? Canisades ärgerte sich nur, dass das an ihm vorbeilief. Der übliche Dienstweg sah die Einbindung aller ermittelnden Kommissare vor, und er hatte diesen Fall als Erster gehabt. Stattdessen wurde er nun mit diesen albernen Papieren konfrontiert. Er hatte nicht wenig Lust, Amadou nebenbei einzufangen und einen Kopf kürzer zu machen. Besonders schwierig konnte das nicht sein. Wenn man es schon für nötig hielt, einem Blinden wie Karimi die Ermittlungen aus der Hand zu nehmen, saß Amadou vermutlich betrunken, nackt und schmutzige Lieder singend mitten auf der Piste nach Tindirma.
Canisades hielt den Moment für gekommen, fragend auf die Papierschnipsel zu zeigen.
«Kinderkram», sagte der General, fegte die Schnipsel in den Mülleimer und scheuchte Canisades mit einer Handbewegung hinaus. Kurz bevor der Kommissar die Tür hinter sich schließen konnte, wurde er noch einmal zurückgerufen. Der General hatte seinen Block in der Hand und tippte auf die Notiz, die er sich gemacht hatte.
«Und das funktioniert?»
«Was?»
«Mit dem Tugendkomitee. Die Nutten. Ich bin ein Familienvater, wie du weißt, und sehr fromm. Ich frage das, weil ich mal einen Onkel hatte … also funktioniert das?»
«Wie gesagt, wir waren nur einmal da. Oder ich.»
«Antworte gefälligst! Machen die kleinen Fotzen es dann umsonst oder was?»
«Vom Offizier aufwärts machen die es eh immer umsonst.»
«Was?»
«Die machen es immer umsonst.» Canisades kam zwei Schritte zurück ins Zimmer. «Das ist so üblich, wir sind doch die Polizei.»
«Wozu dann der Quatsch mit den Papieren?»
«Wie gesagt, ich hab’s nicht probiert. Aber Polidorio sagt, sie wären dann besser. Machen Sachen, die sie sonst nicht machen.»
Der General hob sich halb vom Sitz, drückte seine Faust zwischen die fetten Pobacken und sah Canisades an.
«Ja, so was in der Art.»
«Und das hier? So?»
«Ja. Auch.»
«Und so?»
«Alles. Sagt Polidorio.»
«Im Ernst?» Ungläubig den Kopf schüttelnd schaute der General Canisades an, dann ebenso ungläubig auf seinen Notizblock. «Diese kleinen Schlampen!» Dann winkte er, ohne aufzusehen, seinen Besucher abermals zur Tür hinaus, machte sich neue Notizen und strich die alten durch.
Wenig später rief ein Glaser, der gekommen war, zwei Fenster auszuwechseln, den General aus seinem Büro, und Canisades, der auf dem Flur vor den Postfächern gewartet hatte, schlich in das Büro zurück, klaubte die Schnipsel aus dem Papierkorb und steckte sie in seine Tasche. Sicher war sicher.
Anschließend rief er im Sheraton an und ließ sich mit Mr. White verbinden, dem britischen Journalisten, um ihn zu fragen, ob er Fotos von der unmittelbar bevorstehenden Verhaftung Amadous machen wolle. Und während er noch telefonierte, kam der General schon wieder vorbeigewatschelt und legte einen Notizzettel auf den Telefonapparat. Canisades hielt die Muschel des Telefonhörers zu.
«Ganz vergessen. Musst du auch noch machen», flüsterte der General. «Weil du mich ja ständig unterbrechen musstest. Aber da ist so ein Fellache, der seine zwei Söhne vermisst. Angeblich ermordet. In der Wüste. Einer erschossen, der andere erschlagen. Steht alles auf dem Zettel da. Die Straße nach Tindirma, die alte Scheune, wo sie früher immer den Schnaps gebrannt haben. Und da fährst du erst kurz vorbei. Und dann Amadou. Capisce?»
37. DIE HOHEPRIESTERIN
Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir.
«Bergwerk nicht, weil es hier kein Bergwerk gibt. Landminen nicht, weil kein vernünftiger Mensch auf dieser Welt wegen zehn oder zwanzig Dollar eine Familie entführt und mit dem Tod bedroht. Und eine Festung, unter der Minen gegraben wurden, um das Unwahrscheinliche vollzumachen, scheidet auch aus», sagte Helen mit schiefem Lächeln. «Weil es keine gibt. Vorausgesetzt, dieser Typ mit den Narben hat dir keinen Mist erzählt, und das scheint ja so. Dann bleibt uns wohl nur noch die Bleistiftmine.»
«Oder die Münze. Oder das Buch.»
«Isadora Mine? Und ihr Sohn Aimable-Jean-Jacques? Nein. Glaub ich alles nicht.»
«Und wenn es nicht das Buch ist, sondern irgendwas in dem Buch Verstecktes?»
«Glaub ich trotzdem nicht», sagte Helen. «Nicht, weil ein Buch nicht wertvoll sein kann. Aber weil Bassir Mine gesagt hat. Zweiundsiebzig Stunden, dann hab ich die Mine wieder. Ein halb alphabetisierter Schwachkopf, der dir stundenlang mit einem Brieföffner in der Hand rumrührt, sagt nicht Mine, wenn er Buch meint. Der sagt Buch. Genauso mit der Münze. Der sagt Münze, wenn er eine Münze meint. Vielleicht konzentriert man sich doch besser auf diesen Cetrois.»
«Und wie, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll?»
Achselzuckend stand Helen auf, ging zum Telefon und meldete ein Ferngespräch mit Amerika an. Während sie wartete, suchte Carl noch einmal die Gegenstände zusammen, die er in der Wüste bei sich getragen hatte, und legte alles vor sich auf den Tisch. Das leere Portemonnaie. Das zerknüllte Papiertaschentuch. Den Schlüsselbund. Den Bleistift.
Der Bleistift war sechseckig und mit einer glänzenden grünen Lackierung überzogen, an deren oberem Ende in goldenen Buchstaben 2B eingeprägt stand. Die Spitze war abgebrochen, ein feiner Holzsplitter ließ sich abzupfen.
«Vergiss es», sagte Helen.
«Eine Sekunde», sagte die Telefonistin.
Carl legte den Bleistift zurück, nahm stattdessen das Portemonnaie, untersuchte die leeren Fächer, in denen sich nur noch ein paar Sandkörner befanden, und legte es neben den Bleistift. Er faltete das Papiertaschentuch auseinander, aus dem ebenfalls Sand rieselte, betrachtete es und zerknüllte es wieder. Einige Minuten vergingen. Dann stand er auf, holte ein Brotmesser aus der Küche und begann, den Bleistift zu zerschnitzen. Kopfschüttelnd sah Helen ihm zu. Als der Stummel zu kurz wurde, presste er ihn mit dem Handballen auf den Tisch und sägte mit dem Messer so lange daran herum, bis nichts weiter übrig war als ein Haufen dünner Holzspäne und geheimnisloses Graphitgebrösel, das er nachdenklich betrachtete.