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«Mach dich nicht lächerlich», sagte Helen, als sie sah, wie er eine Fingerspitze zuerst in den Graphitstaub, dann auf seine Zungenspitze tippte.

Plötzlich war die Leitung tot. Helen klopfte auf die Gabel, und nachdem die Stimme der Telefonistin sich auch nach einigen Minuten nicht zurückgemeldet hatte, stand sie auf und sagte zu Carclass="underline" «Ich muss auch noch was einkaufen. Willst du mitkommen?»

Aber Carl wollte nicht mitkommen. Den Kopf in beide Hände gestützt, saß er über den Tisch gebeugt. Erneut griff er nach dem Papiertaschentuch, versuchte, es ein zweites Mal auseinanderzufalten, ohne es völlig in Fetzen zu reißen, und hielt es gegen das Licht, als könne er irgendwelche geheimen Zeichen darauf übersehen haben.

Seufzend zog Helen die Tür hinter sich zu.

Als sie mit zwei schweren Plastiktüten voller Lebensmittel im Arm zurückkam, meinte sie von irgendwoher Stimmen zu hören. Vorsichtig setzte sie die Einkäufe ab, ging leise um das Haus herum, kniete sich hinter eine die Ecke überwuchernde Bougainvillea und schob einen blühenden Zweig beiseite, um auf die Terrasse zu spähen.

Nur ein paar Meter von ihr entfernt hockte Carl im Schneidersitz auf dem Boden und betrachtete angestrengt etwas vor seinen Unterschenkeln. Ihm gegenüber in Rückenansicht eine langhaarige, breitschultrige Frau. Oder ein langhaariger Mann? Beide hatten sie die Köpfe tief gesenkt, und eine Helen wohlbekannte Stimme sagte: «Das ist der Turm. Da kommt jetzt quer drauf der Eremit. Und hier der Wagen, der Stern … den Stern find ich immer eine sehr schöne Karte. Der Stern im Unbewussten, das erklär ich gleich, was das bedeutet. Und auf der Fünf, das ist … der Hängende Mann», sagte Michelle und entfernte rasch die Karte und ersetzte sie durch eine andere.

Carl machte ein fragendes Gesicht. Offenbar war er mit dem Tausch nicht einverstanden, und Michelle, die versuchte, dem Blick seiner kohlenschwarzen Augen standzuhalten, spürte eine Welle schmerzlicher Empathie ihren Körper durchfluten. Sie wusste, was das bedeutete. Es bedeutete, dass sie auf der Hut sein musste.

Schon als dieser bildschöne Mann dem Legen der Karten ohne Zögern zugestimmt hatte, schon als er sie mit unsicheren Bewegungen auf die Terrasse gebeten und einen Kaffee angeboten hatte, nein, um ehrlich zu sein, schon als er mit blutfleckigem Kopfverband und einer abgeknickten Zigarette im Mundwinkel ihr die Tür des Bungalows 581d geöffnet hatte, hatte die unaussprechliche Trauer in seinen Zügen sie überwältigt. Und zwar auf eine Weise überwältigt, dass Michelle Vanderbilt im selben Moment beschlossen hatte, sein Leben nicht an ihres heranzulassen. Solche Entscheidungen traf sie in Sekundenbruchteilen. Auch wenn nicht jeder es ihr zutraute und wenn sie, wie sie wusste, nach außen hin oft ganz anders wirkte: Michelle war eine sehr resolute Person. Willensstärke und Entschlussfreude hatte sie von ihrer italienischen Großmutter; von der sie auf der anderen Seite und im scheinbaren Widerspruch dazu auch das überbordende Temperament, die Spontaneität und die typisch italienische Herzlichkeit geerbt hatte. Kopfmensch und Bauchmensch in einem. Und wenn die Situation es erforderte, war Michelle eben entschieden. Und traf Entscheidungen. Und aus langer Erfahrung wusste sie auch, dass man durch den Dschungel der Komplexität am besten hindurchfand mit der Intuition. Und ihre Intuition sagte vom ersten Moment an: Vorsicht. Vorsicht angesichts eines bildschönen, leidenden Mannes mit malerischem Kopfverband und traurigen Augen, Vorsicht, Michelle Vanderbilt!

Aus einem kurzen Telefonat, das sie mit Helen direkt nach deren Besuch in der Kommune geführt hatte, wusste sie auch, wer dieser Mann war. Dies war der Mann, der eine Art Gedächtnisverlust erlitten hatte. Was bedeutete das?

Es bedeutete erstens, dass Helen mit großer Wahrscheinlichkeit und der für sie charakteristischen Wahllosigkeit eine geschlechtliche Beziehung eingegangen war, was der Mann mit dem provisorischen Namen Carl vorläufig bestritt. Vor wenigen Minuten noch bestritten hatte. Es bedeutete zweitens, dass, verglichen mit dem Schmerz, den Michelle zu tragen hatte, dem herausragenden Schmerz, kürzlich vier Freunde von sich in einem Massaker verloren zu haben, ein Amnestiker, der nichts weiter verloren hatte als seine Identität, ein vergleichsweise glücklicher Mensch sein musste. Und drittens, dass dieser vergleichsweise glückliche Mensch das Gefälle des Leidens von ihr zu ihm als einen Hebel zur Erlangung von Vorteilen (oder was auch immer) missbrauchen könnte oder würde, wenn er wollte. Und wenn sie, Michelle, es zuließe. Sie würde es aber nicht zulassen. Diese Entscheidung stand von der ersten Sekunde an fest. Und wenn eine Entscheidung feststand, dann änderte sich daran auch nichts mehr.

«Weil es sonst bedeutet, in dieser Kombination, also letztlich, wenn man es genau nimmt, mit dem Turm hier auf der Ausgangssituation und dem Tod», sagte Michelle, die eilig die restlichen Karten ausgelegt hatte und mit weit aufgerissenen Augen auf die entstandene Kombination starrte, «mit dem Tod in der nahen Zukunft … was normal ein transformatorischer Prozess ist, der Tod als Umwandlung, als Übergang … wobei wir … wenn wir, ich meine …»

Verwirrt beobachtete Michelle, wie Carl ihr den Hängenden Mann aus der Hand nahm und auf seine ursprüngliche Position zurücklegte.

«Das ist der Hängende Mann», sagte sie, «den nehm ich sonst immer raus, weil, wenn wir das so liegen lassen, wenn das hier so liegen bleibt, es könnte auch bedeuten, dass tatsächlich jemand stirbt … oder etwas … nein, jemand … weil, bei der Fragestellung, wo wir jetzt gesagt haben, worum geht es, und es geht ja um dich, nicht? Das heißt also du …»

«Und das kann man einfach rausnehmen, und dann stirbt man nicht?»

«Von Sterben hab ich nichts gesagt! Nicht unbedingt, aber Moment … ich muss nachdenken. Einen Moment, bitte. Wie ich am Anfang schon sagte: Das sind zeitliche Muster, die eher so Kraftfelder sind, und da kann man nie sagen, es ist so, oder es ist so. Nur dass die Karte hier, ich meine, der Tod … und der Narr und der Teufel und hier das Gericht, in dieser Anordnung, so wie das angeordnet ist … so was hab ich ja noch nie gesehen.»

Michelle fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. Mit dem Gesicht eines Kindes, das kurz davor ist, loszuweinen, blickte sie auf die problematische Kombination. Aber die Karten ließen wenig Zweifel zu.

Michelle spürte es, und sie spürte, dass Carl es ebenfalls spürte.

«Aber sterben muss man doch sowieso. Da steht doch nicht, wann?»

«Das ist die nahe Zukunft, fast Gegenwart. Ich meine —»

«Und wenn ich schon gestorben bin?»

«Gehen wir noch einmal zum Anfang», sagte Michelle mit zittriger Stimme. «Ich will noch mal versuchen, das als Ganzes zu sehen. Da haben wir den Stern, den ich ja immer sehr gut finde, eine sehr gute Karte, was bedeutet, dass du am Anfang voller Hoffnung warst … und das stimmt ja auch. Du hast erzählt, wie du da aufgewacht bist in der Scheune —»

«Und wenn ich schon gestorben bin?»

Helen konnte Michelles Gesichtsausdruck von hinten nicht sehen, aber sie sah den Körper ihrer Freundin erstarren, eine Hand über den Karten, die andere am Hinterkopf, der Ellenbogen gen Himmel gereckt.

Volle zehn Sekunden vergingen. Dann hatte Michelle begriffen, worauf Carl hinauswollte. Helen unterdrückte ein Stöhnen.

«Wenn du schon gestorben bist!», rief Michelle begeistert. «Natürlich! Wenn du schon … du hast wirklich, du bist wirklich ein ganz besonderer Mensch», sagte sie und tippte aufgeregt mit dem Zeigefinger auf den Hängenden Mann, der direkt neben dem Turm lag (der fast so etwas wie eine Leiter war, eine Leiter in einer Scheune!) und gefolgt wurde vom Tod in der näheren Zukunft: Carls Gedächtnisverlust. Der Tod seiner früheren Identität.