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Fassungslos schüttelte Michelle den Kopf. «Das ist manchmal Wahnsinn, wie genau die Karten Bescheid wissen! Und dass du das gespürt hast … ich sage das nicht nur, um dir zu schmeicheln. Aber ich bin da ganz offen, und ich hab das vom ersten Moment an gewusst, als du die Tür aufgemacht hast, dass du ein ganz besonderer Mensch bist. Ein ganz besonderer Mensch. Und du hast eine große Begabung für die Karten. Der Turm, der Eremit und der Wagen … hast du nicht auch von einem Wagen erzählt mit vier Männern drin? Weil, das sind die Einflüsse hier, die strahlen nach den Seiten aus. Wobei der Wagen auch nur eine Suche bedeutet, die Suche, auf der du bist … die Suche nach deiner Identität. Und der Hängende Mann, ich nehm den meistens raus, wie gesagt, aber der bedeutet als Bedeutung eigentlich nur eine Umkehrung, ein Umdenken der eigenen Situation, und dass du jetzt praktisch noch selbst dieser Hängende Mann bist, weil du da kopfüber an dieser Leiter hängst … das ist einfach nur Wahnsinn.» Ihr Zeigefinger wanderte mit neu gestärktem Selbstvertrauen nach rechts, in die Zukunft. Der Tod der Identität, der Narr, die Hohepriesterin und am Ende das Gericht. Die Karten hatten keine sehr offensichtliche Verbindung mehr, jetzt war Konzentration nötig.

Michelle konzentrierte sich und sagte: «Der Narr auf der Sieben, das ist das Selbst, wie du selbst dich siehst … und das Gericht, das ist das Ergebnis. Was bedeutet das? Das bedeutet das Ende einer Leidenszeit. Ein Neubeginn, würde ich sagen … allerdings liegt die Karte falsch rum, das kann also auch das Gegenteil bedeuten, ich meine, wenn wir sie nicht rumdrehen, und du … nein? Weil, da gibt es unterschiedliche Schulen, ich dreh das meistens rum.»

Michelle heftete einen mädchenhaft-zutraulichen Blick auf Carl, aber der schüttelte hartnäckig den Kopf.

«Also, wenn du nicht willst … na ja, so kann das Gericht auch den Anfang einer Leidenszeit bedeuten, es kann Schmerzen bedeuten, wenn das so liegen bleibt, aber es bedeutet eigentlich nur die Möglichkeit von Schmerzen, das heißt, wenn du dich falsch verhältst. Das hängt immer von dir ab. Das Tarot zeigt die Wege, und welchen du letztlich wählst, ich meine … was das genau bedeutet mit der Hohepriesterin auf der Acht und den Schmerzen …»

«Die Hohepriesterin der Schmerzen, das bin natürlich ich», sagte Helen, stieg durch die Bougainvillea auf die Terrasse und marschierte an den beiden vorbei ins Haus. Verwirrt sah Carl auf, und Michelle zog den Kopf ein wie ein Kind, das man bei Doktorspielen überrascht hat. Sie wusste, was Helen von den Karten hielt, von arkanem Wissen und Spiritualität, und gleichzeitig durchfuhr es sie wie ein Blitz: Das waren genau die Eigenschaften der Hohepriesterin, Klugheit und Umsicht — die negativ in Rationalismus und Intellektualismus umschlagen konnten. Wenn die Karte falsch herum lag. Und sie lag falsch herum.

38. KAMPF DER HÄUPTLINGE

«Anspielungen, in dem Buch sind Anspielungen», dachte ich, «ich will sofort mein Geld zurück.»

Marek Hahn

Wie sich herausstellte, hatte Michelle direkt im Anschluss an und vermutlich ausgelöst durch Helens Besuch in der Kommune beschlossen, diesem grausamen und gewalttätigen Kontinent für immer den Rücken zu kehren. Einiges Geld für ihr Flugticket nach Amerika hatte sie unter ihren Freunden zusammengekratzt; nun hoffte sie, dass Helen ihr noch etwas zuschießen würde. Im Gegensatz zu Helen hatte Michelle sich nie für materielle Dinge interessiert, und das Gepäck, das sie bei sich trug, bestand fast ausschließlich aus geistigen Gütern; dem Amulett mit dem Zahn eines Ouz, das Ed Fowler ihr zum Abschied geschenkt hatte, den Tarotkarten, ihren Lieblingsbüchern und dazu, wie sich bald herausstellte, auch einem Stapel Schundheftchen, die Michelle in ein Handtuch eingewickelt mitnahm, als sie noch am frühen Vormittag gemeinsam zum Strand aufbrachen.

Dort herrschte um diese Zeit wenig Betrieb. Ein Dunstschleier verdeckte die Sonne, Helen und Carl setzten sich auf ein großes Handtuch und diskutierten, während Michelle sich etwas abseits auf dem Bauch liegend in die bunten Geschichten vertiefte. In ihrer Haltung lag etwas, das mögliche Kritik an der Qualität ihrer Lektüre von vornherein abblocken zu wollen schien. Nachdem sie ein paar Seiten umgeblättert hatte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie Helen aufgesprungen war und zum Bungalow hochlief. Carl blieb in Gedanken verloren zurück und erwiderte Michelles freundliche Blicke fast gar nicht. Michelle versuchte, sich wieder auf ihr Heft zu konzentrieren. Langsam füllte sich der Strand. Nach etwa einer Viertelstunde kam Helen mit einem Zettel in der Hand zurück und setzte sich sehr dicht neben Carl.

«Also Folgendes. Es gibt keinen Cetrois», erklärte sie mit gedämpfter Stimme. Carl nahm Helen den Zettel aus der Hand und starrte darauf.

«Da ist nichts. Da ist niemand, der so heißt. Es gibt den Namen nicht. Ich hab in Frankreich angerufen, in Amerika, ich hab in London angerufen, Freunde in Spanien und in Kanada, ich hab alle gebeten, in ihrem Telefonbuch nachzugucken. Nicht ein einziger Treffer. Kein Cetrois. Kein Cetroix, kein Sitrois, kein Setrois … nichts.»

Mit zusammengekniffenen Augen schaute Carl auf die Liste mit den durchgestrichenen Ortsnamen: Paris, London, Sevilla, Marseille, New York, Montreal. Darunter ein Dutzend verschiedene Schreibweisen des Namens, jeweils mehrfach abgehakt.

«Wo du überall Freunde hast», murmelte er beeindruckt.

Vor allem beeindruckte ihn, wo überall auf der Welt man von diesem kleinen Ferienbungalow aus anrufen konnte und wie schnell Helen die Recherche durchgeführt hatte. Aber irgendetwas an ihrer Aufstellung irritierte ihn auch, schien ihm fehlerhaft. Nur was? Verwirrten ihn die falsch geschriebenen Namen? Oder Helens Versalienhandschrift, in die sich als einzige Minuskel das n verirrt hatte? Er dachte lange darüber nach, was es war, aber er kam nicht drauf. (Und als er drei Tage später draufkam, war es bereits zu spät.)

Während Helen sich mit einem Seufzer wieder in der Sonne ausstreckte und, einen Arm als Sonnenschutz über die Augen gelegt, vom frankophonen Kanada sprach und von ihrem Freund in Paris, studierte Michelle mit hingebungsvollem Gesichtsausdruck die Bildhintergründe. Sie hatte dieses Heft bestimmt schon zwanzigmal gelesen, aber in den Hintergründen gab es immer noch neue, wunderbare kleine Details zu entdecken. Ab und zu warf sie einen scheuen Blick nach nebenan, und als das Gespräch dort verebbt war und Carl ihren Blick wie zufällig einmal erwiderte, bot sie ihm auch eins von ihren Heftchen an. Zerstreut blätterte Carl es auf. Es hieß «Der Kampf der Häuptlinge».

Auf der ersten Seite sah man die französische Landkarte mit einer in den Boden gerammten römischen Standarte und einer großen Lupe über der Bretagne; darunter ein von vier römischen Lagern umgebenes gallisches Dorf. Es kam Carl vage bekannt vor. Auch die Personenbeschreibungen auf der nächsten Seite kamen ihm vage bekannt vor.

Während er versuchte, den Sinn der teils eiförmigen, teils runden und wolkenförmigen Sprechblasen zu verstehen, hörte er zwei Frauenstimmen hinter sich, eine bekannte und eine unbekannte. Er drehte sich nicht um. Er sah nur, dass Helen ihr Gesicht auf das Handtuch presste und die Arme um ihren Kopf schlang, wie um sich die Ohren zu verschließen.

Die unbekannte Stimme redete mit hartem deutschem Akzent von Duisburg, Kohlebergbau und Kultur, die bekannte, Michelle gehörende, steuerte Adjektive bei.

Die ersten Bildkästchen zeigten den Kontrast zwischen an die römische Zivilisation angepassten, leicht lächerlich wirkenden Galliern auf der einen und urwüchsigen, Wildschweine jagenden Prachtkerlen auf der anderen Seite. Ein Druide verlor seine Fähigkeit, Zaubertrank zu brauen, mitsamt seinem Gedächtnis durch einen Schlag auf den Kopf; und ein zweiter Druide namens Amnesix, der im Wald eine Art psychologischer Praxis betrieb und dem man die Krankengeschichte des Kollegen mit einem Hinkelstein zu erklären versuchte, verlor ebenfalls sein Gedächtnis.