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«Die Wirklichkeit ist ein Spiegel», sagte Michelles Stimme, «durch den deine Hand hindurchgreift.»

Beide Druiden kannten nun nichts und niemanden wieder. Man stellte ihnen Kessel und Kräuter bereit, in der Hoffnung, sie würden sich unbewusst an ihre Zauberformeln erinnern, aber alle Tränke, die sie brauten, verursachten nur Gesichtsverfärbungen und kleinere Explosionen und ließen zuletzt einen römischen Legionär, der als Versuchskaninchen diente, wie einen Heliumballon davonfliegen. Ein dicker Gallier glaubte, den Gedächtnisverlust durch einen zweiten Schlag mit dem Hinkelstein kurieren zu können, ein Lämpchen leuchtete über seinem Kopf. Ein kleiner Gallier sprach drei wütende Ausrufezeichen.

«… nur Akasha nicht. Aber meine vier besten Freunde, und die sind jetzt in einer besseren Welt, das weiß ich positiv. Wenn man lange in der Wüste gelebt hat, wird der Blick ein anderer.»

Die überraschende Heilung bewirkte schließlich ein blassgrüner, unter blubbernden Inflektiven zusammengebrauter Trank, an zu Berge stehenden Haaren, rotierenden Augen und dampfenden Wölkchen vor den Ohren des Druiden auch für den ungeübten Leser erkennbar. Im Schlussbild ein Fest, ein Feuer und ein geknebelter Troubadour, und auch das kam Carl irgendwie vage bekannt vor. Er war verwirrt. Aber was ihn vielleicht am meisten verwirrte, war die Sekretärin des Druiden Amnesix. Sehr schlank, sehr schön und sehr blond, erschien sie Carl wie das genaue Abbild Helens. Er warf dem Original einen raschen Blick zu, dann schaute er von Helen zu Michelle, und da war noch jemand. Eine blasse, weibliche Person.

Mit der ebenfalls von ihrer italienischen Großmutter stammenden Kontaktfreude hatte Michelle wenige Minuten zuvor die Bekanntschaft dieser deutschen Urlauberin gemacht, die sich sofort als überraschend vernünftig erwies. Die Deutsche trug einen grün-gelb gestreiften Badeanzug, radebrechte Englisch und arbeitete in einem Beruf, den sie selbst als «woman for everything» bezeichnete. Michelle zeigte ihr die Tarotkarten, sie sprach über den Hirseanbau und das Klima, und die Deutsche klagte über Politik. Nicht dass sie etwas für die Israelis übrighätte, aber was dort in München geschehe, sei doch schrecklich! Natürlich könne man die Verzweiflung der Palästinenser verstehen, könne verstehen, dass sie die Juden auch und gerade im Ausland angriffen, denn was hätten sie sonst schon für Möglichkeiten, die Weltöffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen? Weshalb das ganze Attentat eben auch die Folge der internationalen Politik, des Verhaltens der Staatengemeinschaft sei — und dennoch! Es seien auch unschuldige Menschen darunter. Könne man zynischer argumentieren als ‹The games must go on›? Die beiden Frauen vergossen einige Tränen. Der Wind frischte auf. Michelle wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so gut unterhalten hatte. Es war wohltuend, an der Schulter der Deutschen zu lehnen, die ein wenig nach Mayonnaise roch, sich seinen Gefühlen hinzugeben und dabei aufs Meer zu sehen, hinter dem irgendwo Amerika lag, das, wie Michelle soeben erfahren hatte, ebenfalls von Juden regiert wurde. Jedenfalls ökonomisch gesehen. Diese Deutsche wusste allerhand. Mit einem nachdenklich an die Unterlippe gelehnten Zeigefinger schlug Michelle vor, die Tarotkarten zum Palästinakonflikt zu befragen.

Sie sprach mit leiser Stimme, aber auf dem anderen Handtuch beachtete man die beiden Frauen ohnehin nicht. Carl hatte Helen gerade irgendeine Frage gestellt, Helen hatte aufgeregt geantwortet, und schon waren sie wieder in eine kopflose Konversation über diesen Mann namens Cetrois vertieft. Cetrois hier, Cetrois da.

«Was habt ihr eigentlich immer mit diesem Cetrois?», rief Michelle.

Sie begann, der Deutschen, die im Übrigen Jutta hieß, das Legesystem zu erklären, die Erweiterung des Keltischen Kreuzes. Sie erwähnte den altägyptischen Ursprung des Spiels, das große und das kleine Arkanum, das Prinzip und das umgekehrte Prinzip, und zwischendurch, als es nebenan kurz still geworden war, wiederholte sie ihre Frage.

«Möchtest du ein Stück Schokolade?», antwortete Helen.

Ohne ihre Jugendfreundin eines Blickes zu würdigen, legte Michelle den Hierophanten auf die Eins. Warum musste Helen sie immer wieder spüren lassen, wie wenig sie von ihren geistigen Fähigkeiten hielt? Außerdem wusste Helen genau, dass Michelle grundsätzlich keine Schokolade aß, das setzte bei ihr immer sofort an den Oberschenkeln an.

«Ich frag ja nur! Cetrois hier, Cetrois da.»

«Es gibt keinen Cetrois», sagte Helen ärgerlich.

Und die Wellen rauschten an den Strand, die Möwen schrien über ihren Köpfen. Jeden normalen Menschen hätte die herrliche Natur beruhigt und entspannt. Nicht so Helen.

«Natürlich gibt es Cetrois», sagte Michelle. Sie hielt die nächste Karte mit der Rückseite nach oben und drehte sie feierlich um. Der Magier auf der Zwei. Den Hierophanten als Ausgangssituation mit dem Magier in den Einflüssen fand Michelle nie sehr einfach zu interpretieren. Man täuschte sich hier leicht, wenn man Religiosität mit Religion verwechselte. «Ich kenne ihn», murmelte sie und legte die Mäßigkeit auf die Drei. Die Mäßigkeit neben dem Magier, das ergab erst mal überhaupt keinen Sinn jetzt. Man würde abwarten müssen. Oft stellte sich der Zusammenhang erst aus dem Zusammenhang her. Als Nächstes kamen der Eremit, der Stern, der Triumphwagen … und schließlich hob Michelle den Kopf in das entsetzliche Schweigen hinein, das sie auf einmal umgab.

Helen und Carl waren aufgesprungen und starrten sie an. Mit so viel Aufmerksamkeit hatte sie nicht gerechnet. Ruhig legte sie die restlichen Karten aus. Das Rad des Schicksals, die Liebenden, der Herrscher …

«Was!», rief Helen.

«Du kennst ihn?», rief Carl.

Was war denn das für ein Ton? Sie ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie wieder aufsah.

«Du kennst ihn?», rief Helen.

«Ja, natürlich», sagte sie achselzuckend zu Jutta, und Jutta nickte verständnisvoll. «Aber mich fragt ja immer keiner!»

Sie machte einen Schmollmund und betrachtete mit freundlich-selbstbeherrschtem Blick den freundlich-selbstbeherrschten Herrscher auf der Zehn. Würde der Herrscher Palästina Frieden bringen? Das war die Frage. Die Karte schien diese Deutung nahezulegen, aber leider nur eine halbe Sekunde lang. Dann wurde Michelle an der Schulter herumgerissen. Helen. Neben ihr Carl. Schreiend. Bis hierhin war es ein Triumph gewesen. Jetzt wurde es sofort unangenehm. Und gern hätte Michelle die Antwort auf die überaus unhöflich gestellten Fragen verweigert oder wenigstens hinausgezögert, aber wenn die Jahre in der Kommune sie eines gelehrt hatten, dann, dass ein Herumgerissenwerden an der Schulter das Ende der freundlichen Kommunikation bedeutete. Und wie hieß es so schön? Der Klügere gibt nach!

«Der Klügere gibt nach», sagte Michelle, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr und begann, stockend und etwas ängstlich angesichts der nun direkt über ihr stehenden Helen zu berichten, dass sie diesen Cetrois kannte, ja natürlich, sie kenne ihn, und warum denn auch nicht? Also nicht direkt, aber … und woher? Ja, woher denn wohl schon, ob sie sich das nicht denken könnten. Das liege doch nahe, wo sie die letzten Jahre an nun wirklich keinem anderen Ort als der Kommune verbracht habe, und genau da und … nein! Kein Mitglied der Kommune, Himmel, Mitglied der Kommune sei der nicht gewesen … und was solle denn das? Wolle man sie bitte nicht immer an der Schulter reißen und sie einfach erzählen lassen? Sie erzähle ja bereits, und auf die eine Sekunde komme es doch nun sicher auch nicht mehr an. Sie könne auch nur erzählen, wenn man sie nicht bedränge, so sei sie, Michelle, nun eben, sie sei, wie sie sei, ein ruhiger, mit sich selbst im Reinen seiender Mensch, und wenn es nicht ruhig gehe, dann gehe es eben überhaupt nicht …