Helen scheuerte ihr eine. Es war die erste Ohrfeige, die Michelle in ihrem Leben erhalten hatte, und es blieb völlig im Dunkeln, ob sie eine therapeutische Wirkung zeigte oder nicht. Wenn man ein Aspirin nimmt und die Kopfschmerzen weggehen, weiß man ja auch nie, was die Heilung bewirkt hat. Und was sich jetzt innerhalb weniger Sekunden herausstellte, war, dass Michelle auch nicht wusste, wer dieser Cetrois war. Weder hatte sie ihn gesehen noch gesprochen … und nein, persönlich schon gar nicht. Nur habe er eben kurz nach dem Massaker die Kommune besucht. Im Auftrag einer Versicherung. Ein Versicherungsagent offenbar.
«Also, erst dachten wir Journalist, dann Detektiv oder so was. Und dann vielleicht Versicherungsvertreter. Agent. Wobei, das haben die anderen gesagt, ich hab ja, wie gesagt, grad geschlafen. Nun lass mich doch.»
Sie ließen sie nicht.
«Welche Versicherung?»
Michelle wand sich, hustete, blickte umher. Diese bohrenden Fragen. Wieder einmal reichte es nicht, etwas zu wissen. Immer musste alles genau begründet werden und belegt, die westliche Krankheit. Und so genau wusste sie es dann ja auch wieder nicht.
«Ich weiß nur, was die anderen mir erzählt haben», erklärte sie und unterstrich ihre Worte mit dramatischen Gesten. Denn es war offenbar ein dramatischer Vorgang. «Ich hab ja auch damit nichts zu tun! Nur dass es ein paar Tage nach diesem schrecklichen Überfall war. Die Polizei hatte alles durchsucht, stundenlang, und dann kam dieser Mann. Weil, Ed Fowler … Ed, Eddie, den hast du auch kennengelernt, der hatte ja eine Versicherung bei dieser englischen Firma —»
«Eine Lebensversicherung? Diebstahl?»
«Ja … nein. Auch. Er hatte irgend so eine Versicherung, frag mich nicht. Für das Materielle habe ich mich noch nie interessiert, und auch Ed hat sich nicht dafür interessiert. Das war seine Familie, die hat das für ihn gemacht. Er kommt doch aus diesem stinkreichen Elternhaus, und die wollten unbedingt, also, die hatten anscheinend eine Versicherung für ihn abgeschlossen, und woher soll ich denn wissen, was für eine?» Michelle machte eine kurze Pause, aber wirklich nur eine winzige Pause. «Jedenfalls stand ja in allen Zeitungen das mit dem Bastkoffer und dem Geld. Der goldene Koffer voller Geld. Das hatten ja alle gesehen, da standen ja tausend Leute vorm Haus, die diesen schmutzigen Amadou gesehen hatten, wie er mit dem Koffer … und du weißt, wie die Araber sind. Gold und Geschmeide! Man bringt ja keine vier Leute um wegen nichts. Dabei war das nur so ein Bastkoffer. Mein Koffer im Übrigen. Den mussten wir in der vierten Klasse mal machen, gelb mit roten Sternen drauf und so. Die sind aber später abgefallen. Und da hatte dann irgendjemand Papiergeld reingetan. Aus’m Osten. Was aber nichts wert war.»
«Und was war das wert?»
«Nur ein paar Dollar, hat Ed gesagt.»
«Das wusste aber keiner?»
«Doch. Die Polizei — am Anfang haben wir halt schon alles erzählt. Im ersten Schock. Und dann kam Ed aber drauf … jedenfalls hieß es dann Dollars. Dass da Dollars drin waren. Und Wertgegenstände. Gold.»
«Und da habt ihr dann versucht, die Versicherung zu bescheißen. Kann es sein, dass das Lloyd’s war?»
«Das weiß ich nicht, ob das Lloyd’s war. Ich hatte auch nichts damit zu tun! Ich dürfte da eigentlich gar nicht mit euch drüber reden.» Michelle richtete die vor ihr liegenden Karten am Muster des Badelakens aus. Für die palästinensische Zukunft sah es auf einmal überraschend düster aus. Sie wollte die Unterhaltung jetzt auf keinen Fall weiterführen.
«Aber gesehen hast du den nicht?»
«Nein.»
«Und woher weißt du, dass der Cetrois hieß?»
«Weil das die anderen gesagt haben, mein Gott! Die mit ihm gesprochen haben. Dass der so hieß.»
«Und der kommt da an bei euch, klopft an der Tür und stellt sich vor als Versicherungsagent Cetrois.»
«Ja … nein … nein, nicht als Versicherungsagent. Aber das haben wir uns dann gedacht, wir sind ja nicht doof! Ich meine, vorgestellt hat der sich als … ich weiß es nicht mehr genau, als Journalist oder was, hab ich vergessen. Aber das war ja klar, dass das kein Journalist war. Dass der wegen dem Geld kam. Weil der immer danach gefragt hat. Geld, Geld, Geld! Geld hier, Geld da, Geld überall! Und jetzt sagt ihr doch mal, warum interessiert ihr euch denn für den?» Michelle kämpfte mit den Tränen, und Jutta, die die ganze Zeit mitfühlend geschwiegen hatte, ergriff ihre Hand.
39. OHNE LEICHE KEIN MORD
Ich meine, natürlich bewege auch ich meine Kamera. Aber nur, wenn ich auch einen Grund dafür sehe.
Ein großes Gebäude und zwei kleinere, mitten in der Wüste. Canisades suchte nach Reifenspuren, die von der Piste abzweigten, und steuerte ihnen folgend auf die Gebäude zu. Auf dem Dach einer der Baracken war Wäsche zum Trocknen ausgelegt. Die riesige Scheune lag halb verfallen, Sanddünen leckten die Wände hinauf. Ein Müllhaufen hatte zwei Vögel angezogen. Es war anzunehmen, dass das Anwesen noch vor zwanzig, dreißig Jahren auf fruchtbarem Boden gestanden hatte, von der Oase aus bewässert worden war oder von einem eigenen, nun ausgetrockneten Brunnen. Dass hier noch jemand lebte, konnte nur zwei Gründe haben. Entweder war der Besitzer verrückt, oder Schmuggler benutzten die alte Scheune als Lager. Canisades parkte den Wagen. Sofort kam ein alter Fellache auf ihn zugeschwankt. Schon physiognomisch gewann die «Verrückt»-Hypothese an Plausibilität. Halb blind, stark schielend, ein Auge trübweiß verschleiert.
«Ein Jammer, ein Jammer!», rief er sofort. «Sind Sie der Gendarm? Kein Geld dieser Welt kann mir das ersetzen. Meine Söhne! Tausende von Dollar, Tausende und Tausende, meine prächtigen Söhne, Licht meiner Augen, Sonne meines Alters! Auf meinen Armen gewiegt, die beiden, die Jungen, die Prinzen. Ich flehe Sie an, kein Geld auf Erden.»
Canisades, der nicht die Absicht gehabt hatte, irgendwas in dieser Welt mit Geld zu ersetzen, wich einen Schritt zurück.
«Mohammed Bennouna? Das ist Ihr Hof?»
Der Mann nickte malerisch. «Tot und verschollen! Schmerz in meiner aufrichtigen Brust, ich lüge nicht! Einst ein paradiesischer Garten, jetzt stinkende Wüste. Nur ein Ungläubiger … vom Himmel gefallen … und so hat er sie erschlagen, so! Mit beiden Händen.» Er schwang einen imaginären Flaschenzug über seinem Kopf. «Möge er in der tiefsten Hölle … ich fluche nicht. Die Schmerzen. Allah stellt mich vor die schwerste Prüfung, das ist gerecht. Aber mein Goldjunge, mein Silberjunge, ermordet, geschändet, verschollen …»
«Wo sind die Toten?»
«Kann man weiterleben mit diesen Gedanken? Das frage ich. Wie soll der für immer zertrümmerte Schädel meines Sohnes … unter keinen Umständen. Das Moped ist weg, meine Söhne sind weg, die Stützen meines Alters … unbezahlbar! Und der Schmerz in meiner Seele noch nicht eingerechnet.» Der Fellache fiel vor Canisades auf die Knie und umklammerte dessen Beine. Seine Alkoholfahne erklärte das nur unzureichend. Canisades versuchte es zuerst mit Rückwärtsgehen, dann mit Beschimpfungen. Auf allen vieren kroch der Alte hinter ihm her.
«Zeig mir die Toten. Du hast zwei Tote gemeldet. Und hör auf, meine Schuhe vollzusabbern.»
Der Fellache jammerte weiter, und erst, als Canisades seinen Autoschlüssel herausholte und drohte, nach Targat zurückzufahren, besann er sich. Immer noch kläglich, aber relativ umstandslos und mit großen Gesten, während er Canisades herumführte, berichtete er, was sich zugetragen hatte; oder wovon er glaubte, dass es sich zugetragen hätte. Offenbar hatte er zwei Söhne gehabt. Der Ältere einundzwanzig (Licht meiner Augen, Sonne meines Alters usw.) und mit einem schweren Gegenstand (der Alte behauptete: einem Flaschenzug) erschlagen; der Jüngere sechzehn, in die Wüste geflohen und dort ebenfalls erschlagen. Am selben Tag.