Die Luke wurde geschlossen.
Carl wartete einige Sekunden und klopfte erneut.
«Kannst du Helen kurz holen?»
Der Schatten der Frau hinter dem Fensterglas machte abwehrende Gesten. Nichts passierte. Er rief Helens Namen, er ging im Hof herum. Schließlich setzte er sich wieder in den Honda, suchte Papier und Stift und schrieb an Helen, dass er vergeblich versucht habe, eingelassen zu werden, und sich nun ein wenig die Straßen um die Kommune herum ansehen werde. Er legte den Zettel auf den Fahrersitz, betrachtete ihn kurz und malte zur Sicherheit noch einen Pfeil dazu, um anzuzeigen, in welche Richtung er gegangen war: Schräg die kleine Gasse runter und an Brot, Orangen und Töpfen vorbei.
Auf der Straße war hitzebedingt wenig Verkehr. Es duftete nach frischen Teigwaren, es duftete nach Orangen, und der Töpfer und sein Gehilfe diskutierten die olympische Frage. Neben dem Rinnstein war ein Bettler eingeschlafen. Ein Händler spritzte Obst- und Gemüsereste mit einem Wasserschlauch vom Bürgersteig, und sein gleichmütig heiteres Gesicht nahm den Ausdruck gespielter Bösartigkeit an, sobald er den Strahl auf eine Horde kreischender Kinder in wasserfleckigen Hemden richtete. Eine schwangere Frau stand daneben, glücklich und schön wie der Abend. Ein Junge unterhielt sich mit einem unsichtbaren Hund.
An parkenden Autos entlang schritt Carl die Straße zur Moschee hinunter. Von Zeit zu Zeit sah er sich um. Er fühlte eine leichte Schwummrigkeit. Tiefverschleierte Frauen schlugen ihre Augen nieder, und die Kühlergrills der parkenden Autos blickten ihn an wie schielende Hasen, fühllose Insekten, bebrillte Intellektuelle und bürokratische Fleischfresser. Fischmäulige, chromblinkende Citroëns mit hydropneumatischer Federung glänzten neben heruntergekommenen Straßenkötern mit schweren Lackschäden. Flieder, senfgelb, pink. Carl blinzelte und fasste sich an den Kopf. Am Ende der Reihe parkte ein segelohriger Mercedes, dessen rechtes Hinterrad auf einer zerquetschten Getränkedose stand. Es war eine grüne Dose mit weißer Aufschrift: 7up. Ameisen wimmelten um das dreieckige Loch. Der Muezzin rief. Rechter Hand saßen Männer im Café und klackerten mit Dominosteinen. Linker Hand wurde Backgammon gespielt. «Und dann drehen wir den Teller um und spülen ihn von der anderen Seite, und das wiederholen wir siebenmal.»
Ein Verkäufer kreischte den Kilopreis.
«Na komm. Komm doch, komm her, schau, was ich habe, ja also schau doch, na schau-schau, na komm, komm, was hab ich denn hier, na was, was, na schau, nein, also nein, na los na, hier, ja, komm hier, ja, ja, ja, komm, ja, ja. Schau, schau.»
Ohne zu wissen, was er tat, war Carl stehen geblieben. Er spürte dem sonderbaren Gefühl in seinem Kopf nach und strich sich durch den Siebentagebart. Als er nach einer Weile aus seinen Gedanken erwachte, merkte er, dass er minutenlang auf ein Schaufenster gestarrt hatte. Er stellte den Blick scharf und sah einen dahinter herumhantierenden Mann. Es war das Schaufenster eines Barbiers.
Kurz entschlossen betrat er den Laden, setzte sich auf einen der freien Polsterstühle und bat um eine Rasur. Ein feuchtes und heißes Handtuch schlug in seinen Nacken. Der Barbier war ein kleiner, flinker Mann und redete, während er Carls Bart abschabte, wie das Klischee seines Berufsstandes.
Carl hörte nicht zu, und als er zwischendurch einmal doch zuhörte, ging es anscheinend um einen Kriminalfall. Er starrte sein Spiegelbild an, und sein Spiegelbild starrte ihn an mit einem Ausdruck der Konzentration, der an Leere grenzte. Ein Kriminalfall und seine Verwicklungen. Carl kniff die Augen zusammen und sah im Geiste die grüne Getränkedose unter dem Hinterrad des Autos, doch sah er sie nicht so, wie er sie während seines Spazierganges gesehen hatte, sondern seitenvertauscht und in der Art einer Fotografie: viereckig, verkleinert und mit leuchtenden Farben eingeklebt in das Fotoalbum seines Gedächtnisses.
Der Barbier forderte ihn auf, ruhig zu bleiben. Carl umklammerte mit beiden Händen die Lehnen des Polsterstuhles, und schließlich rief er dem Mann zu, er solle schweigen, und klatschte sich die Hände auf die Augen. Eine Getränkedose unter einem Hinterrad auf einem Foto mit leicht abgerundeten Ecken … das war kein Foto. Es konnte kein Foto sein. Ober- und Unterkante des Bildes waren nicht ganz parallel. Ein trapezförmiges Bild mit runden Ecken und der scharf umrissenen Abbildung einer Getränkedose unter einem Autoreifen. Was zum Henker war das?
«Und seitdem ist er auf der Flucht», fuhr der Barbier unbeeindruckt fort. «Und wenn du mich fragst — Kopf nach links, bitte. Wenn du mich fragst, hat der Hilfe gehabt, von ganz oben. So ein Polizeitransporter ist kein Pappkarton. Ein Freund von mir hat ihn im Leeren Viertel gesehen! Da ist er einfach über die Straße … ist gleich fertig, der Herr. Da hab ich gefragt, warum unternimmst du denn nichts, mein Freund? Und weißt du, was er sagt? Er sagt, was gehen mich die Nasrani an. Da sag ich, ich versteh dich ja, sag ich, aber was du nicht bedacht hast, da ist eine Belohnung ausgesetzt, und da sagt er, vier Nasrani, sagt er, so hoch kann keine Belohnung sein, dass ich mich da einmisch … das ist aber kein Argument, sag ich. Vier weniger sind sie auch so, da kannst du also auch die Belohnung nehmen, weil weg ist weg, und tot ist tot, sag ich, da sagt er …», sagte der Barbier und sagte nichts mehr. Das Rasiermesser in seinen Händen verharrte noch einige Sekunden lang wie versteinert über dem gepolsterten Stuhl, auf dem niemand mehr saß. Im Waschbecken klimperte ein Geldstück, und in der Türöffnung schwebte für Bruchteile von Sekunden scheinbar schwerelos das Handtuch in der Luft, das Carl sich im Hinausrennen von den Schultern geworfen hatte; bevor es zu Boden fiel.
Carl legte die ganze Strecke im Laufschritt zurück. Dabei wischte er sich den Rasierschaum mit dem Ärmel aus dem Gesicht. Er lief an der Reihe parkender Autos entlang zurück wie an einem Gedankengang, den man rückwärts verfolgt. Das Auto mit den segelohrigen Rückspiegeln stand noch immer da, und es war noch immer ein senfgelber Mercedes 280 mit schwarzen Sitzen. Ein pinker Ford davor, ein fliederfarbener Ford dahinter. Er ging um das Auto herum. Dann hockte er sich vor das Hinterrad und betrachtete die Dose 7up, durch deren Trinköffnung Ameisen ein und aus gingen. War es das jetzt? War das das Bild? Er versuchte, die Dose unter dem Reifen hervorzuziehen, was nicht gelang. Es blickte ins Innere des Wagens. Dort konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Sitze schienen aus Leder. Im Fußbereich vor dem Beifahrersitz lag eine braune Tasche, in der ein Packen Papier steckte. Das Fenster stand zwei Finger breit offen, die Tür war verschlossen. Ein gewöhnliches Auto mit gewöhnlichen Dingen darin … er kniete sich erneut vors Hinterrad und betrachtete die Aluminiumdose. Er zerrte daran.
«Was machst du da?» Hinter ihm standen zwei junge Männer. Es waren keine Polizisten. Der eine war der Händler, vor dessen Laden der Mercedes parkte.
Carl winkte ab und versank in der Betrachtung der Getränkedose. Er sah die Ameisenstraße. Er sah die Straße. Er sah das blanke Aluminium.
«Hey, Mann.» Aggressiver Ton. Sehr aggressiver Ton.
«Mich interessiert nur die Dose hier», sagte Carl und versuchte die beiden wegzuwedeln wie Fliegen.
«Du hast an der Tür von dem Auto gerüttelt.»
«Ja und?»
«Ist das dein Auto?»
«Was geht dich das an? Ist es dein Auto?»
«Nein, das ist nicht mein Auto. Aber ist das dein Auto?»
«Ja, das ist mein Auto!», sagte Carl entnervt. Die Dose bewegte sich ein wenig. Er bog eine Ecke nach oben, um sie besser greifen zu können, und rüttelte mit aller Kraft daran. Er wusste überhaupt nicht, was er damit wollte. Die Ameisen krabbelten über seine Finger.
Hinter ihm tuschelten die Männer. Dann sagte der eine: «Hey, wie redest du? Wie redest du denn mit uns?»
Carl schlenkerte eine Hand in seinem Nacken. Sie sollten verschwinden.