In den letzten Tagen hatte er sich angewöhnt, auch ganz unbekannten Leuten zuzunicken. Er lächelte zurück. Sofort stand sie auf und kam an seinen Tisch.
«Hallo», sagte sie laut und deutlich.
«Hallo», sagte er.
«Du siehst gut aus», sagte sie, als hätten sie einander lange nicht gesehen, und in ihm arbeitete es — sie kannte ihn! Auch wenn sie ihn offenbar nicht sehr gut kannte, denn bevor sie sich auf den freien Stuhl setzte, hatte sie erkennbar gezögert.
Das Bedürfnis, sich dieser Frau sofort anzuvertrauen, war ungeheuer groß. Sie hatte ein biederes, reizloses Gesicht, und nichts sprach dafür, dass von ihr irgendeine Gefahr ausging … oder? Täuschte er sich? Wenn sie eine Bekannte Adil Bassirs wäre, eine Abgesandte vielleicht, die kam, ihn an das Ultimatum zu erinnern? Aber nein, nein, das war Unsinn. Ihr Gesicht war viel zu harmlos. Und wie hätte sie ihn auch finden sollen?
Er beschloss, stumm bis zwanzig zu zählen und sich ihr dann zu offenbaren. Und wenn er sie reden ließe, würde er vielleicht auch von sich aus erschließen können (oder sie würde es ihm einfach sagen), wer er war … und wer sie war. Vielleicht ist sie meine Frau! zuckte es durch sein Hirn. Aber eine Frau, deren Mann seit Tagen verschollen war, die man gerade vergewaltigt und deren Sohn man einen Finger abzuschneiden gedroht hatte, begrüßte ihren Mann anders. Nein, sie war eine gute Bekannte, entschied Carl für sich, möglicherweise seine Geliebte. Wobei sie ihm für die Geliebte eines Gewaltverbrechers auch wieder viel zu bieder und bürgerlich erschien und auch zu unattraktiv. Allein die kräuselige Dauerwelle. Außerdem stimmte etwas mit ihrem Blick nicht. Ihr Blick war so unstet wie seiner, und als er bei zwanzig angekommen war und die Kommunikation noch immer stockte, erwog er die Möglichkeit, dass auch sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Sie lächelte, wurde wieder ernst, dann lächelte sie wieder. Dann wurde sie wieder ernst. Schließlich wurde sie rot.
«Lass mich nicht alles allein machen», sagte sie.
Oder sie war psychisch krank.
«Ich freue mich, dich zu sehen», sagte er und bemühte sich, ruhig zu bleiben, während seine Füße unter dem Tisch unkontrolliert zuckten. Der Fluchtimpuls war fast so stark wie bei seinem Erwachen auf dem Dachboden der Scheune. Sollte er nicht besser auf seinen Körper hören? Die Frau, die seine Unruhe bemerkte, warf den Kopf in den Nacken und lachte künstlich.
«Es gibt hier in der Nähe ein Hotel», sagte sie.
Carl nickte.
Da wurde sie wieder rot. Sie ist geisteskrank, dachte er, sie redet völlig zusammenhangloses Zeug … nein. Nein, es muss etwas anderes sein. Etwas so Schlichtes und Naheliegendes vermutlich, dass er nicht draufkam. Er entschied sich, das Spiel abzubrechen und sich ihr zu offenbaren. Für alles andere war es auch schon längst zu spät. Er beugte sich über den Tisch und flüsterte: «Ich weiß, es klingt verrückt. Aber ich kenne dich nicht.»
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb absolut unverändert. Hatte sie ihn nicht verstanden?
«Bist du verheiratet?», fragte sie.
«Was?»
«Ich weiß», sagte sie und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. «Ich weiß, dass das nicht normal ist. Das Hotel ist da.»
Sie stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Carl, der es gerade noch schaffte, mit zitternden Händen zwei Münzen auf den Tisch zu werfen, folgte ihr. Der Kellner fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
43. SIRENEN
Menschenbilder, so was Grausliches. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so hart sagen darf.
Der Hotelpförtner hob nicht einmal den Kopf und legte den Schlüssel mit der Nummer 7 auf den Tresen.
Es ging eine schäbige Treppe hinauf und einen schäbigen Gang entlang in ein schäbiges Zimmer. Die Frau riss sich sofort die Bluse auf. So etwas hatte Carl noch nie gesehen. Eine nackte Brust … noch eine nackte Brust … er konnte sich zumindest nicht erinnern.
Dagegen war er machtlos.
«Sprich Arabisch mit mir», sagte die Frau, als sie nebeneinanderlagen.
«Warum?»
«Sprich zu mir, du wilder Mann!»
«Was?»
«Sprich Arabisch!»
«Was soll ich denn sagen?»
«Egal.»
«Mir fällt nichts ein», flüsterte Carl auf Arabisch.
Sie nickte, schloss langsam die Augen und zog ihn auf sich. Ihr Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an. «Weiter», stöhnte sie, und Carl, der merkte, dass sie kein Arabisch verstand, nannte sie eine dumme Kuh, eine hässliche Alte, ein verblödetes Dauerwellen-Mädchen. Während das Zimmer rhythmisch auf und ab schwankte, fiel sein Blick auf den gelben Blazer, den er neben das Bett geworfen hatte. Er musste an die Gegenstände in den Taschen denken, besonders an den Stadtplan. Irgendwie war er nicht bei der Sache. Er kniff die Augen zu und versuchte sich vorzustellen, es sei Helen. Er steckte seinen Kopf in die Achselhöhle der Frau und wusste: Das war nicht das erste Mal. Er hatte Frau und Kind, er hatte mit seiner Frau verkehrt. Er vergaß zu atmen und schnappte nach Luft. Endlich hörten ihre Bewegungen auf.
Während die Frau duschte, lag er rücklings auf dem Bett und starrte die Zimmerdecke an. Türenschlagend kehrte die Frau zurück. Er hörte, wie sie sich abtrocknete, hörte, wie sie ihre Kleidungsstücke überstreifte. Dabei redete sie die ganze Zeit leise vor sich hin. Sie sagte, dass er ein erbarmungsloser Stecher sei, ein sehr harter Ficker, ein Tier. So ähnliche Dinge hatte sie auch die ganze Zeit über im Bett gesagt (und sie wiederholte sie vielleicht, um nicht wankelmütig vor sich selbst zu erscheinen, sie schien den Tränen nahe). Zum Abschied kam sie noch einmal auf ihn zu, legte den Zeigefinger auf seine Lippen, dann auf ihre Lippen und sagte: «Wenn wir uns zufällig noch mal begegnen: Du weißt Bescheid. Wir kennen uns nicht.»
Sie schaute ihn an, bis er nickte. Dann ging sie, und er blieb liegen und starrte weiter die Decke an. In allen vier Ecken des Zimmers waren Reste abgebröckelten Stucks erkennbar. Über der Fensterfront hatten sich mehrere, einander umschließende Ringe von Wasserrändern gebildet. Ihre kalligraphischen Umrisse sagten ihm nichts, was exakt das war, was ihm die meisten anderen Dinge und Gesichter auch sagten, und er dachte über den geheimen Sinn dieser Analogie nach. Die Augen fielen ihm zu.
Nach einer Weile hörte er Geräusche aus einem Nebenzimmer. Ein Stöhnen, als ob zwei Menschen miteinander verkehrten. Carl wollte das nicht hören und vergrub seinen Kopf in den Kissen. Das Stöhnen der beiden wurde lauter, wobei genau genommen nur die Frau zu hören war. Den Mann schuf seine Phantasie hinzu. Es konnten also auch zwei Frauen sein, die sich dort vergnügten. Oder eine Frau mit zwei Männern. Oder eine Frau allein. Die Zahl der Möglichkeiten beunruhigte ihn.
Er überlegte, dass in dem Zimmer, in dem er sich befand, vor wenigen Minuten die gleichen Geräusche zu hören gewesen waren, und auf einmal kam es ihm vor, als ob es nicht nur die gleichen, sondern dieselben Geräusche wären, das Stöhnen der verrückten Frau, das jetzt als sehr verspätetes Echo durch die Zimmerwand zu ihm drang. Wie eine Tonbandaufzeichnung, die jemand im Nebenraum von ihnen gemacht hatte und nun noch einmal zur Kontrolle abspielte, ein Echo seiner eigenen, nicht vorhandenen Leidenschaft. Er saß aufrecht im Bett, ein Ohr an der Wand. Das Stöhnen steigerte seinen Rhythmus über einige Minuten und fiel dann plötzlich eine Oktave herab wie eine Polizeisirene, die vorüberfährt, während eine zweite Stimme dumpf und kurzatmig dazwischenschnaufte. Dann wurde es wieder still.