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Carl war erleichtert, die Stimme des Mannes noch gehört zu haben, die ganz erkennbar nicht seine eigene war. Er hatte während der ganzen Sache mit der Frau nur anfangs leise Arabisch gesprochen und dann still zu bleiben versucht; aus mehrfacher Verlegenheit. Erstens kannte er die Frau nicht, zumindest war er sich ziemlich sicher, sie nicht zu kennen. Zweitens verbarg er etwas vor ihr, von dem man schlecht sagen konnte, was es war, und drittens konnte er sich zwar daran erinnern, dass man beim Geschlechtsverkehr Geräusche machte, er wusste aber nicht mehr, welche das bei ihm selbst sein würden, und fürchtete, sich selbst bei erschreckend unbekannten Lauten zuhören zu müssen.

Ohne es zu wollen, döste er ein. Im Halbschlaf glaubte er, tatsächlich eine Polizeisirene vorüberfahren zu hören, sagte sich, dass sie hinter ihm her seien … und schlief weiter. Schmerzhaft pickte irgendetwas von hinten an seine Schädeldecke. Er blinzelte und sah einen Lichtfleck in Form einer Mondsichel über seine Netzhaut irren. Zuckend und pickend glitt die Sichel nach links in die Nacht. Er sah sich im Traum einen grünen Tee trinken. Er sah sich an einem grünen Tisch sitzen und ein grünes Haus betrachten, auf dem eine grüne Fahne wehte. Ein Jeep fuhr vorüber, die Getränkedose fiel ihm wieder ein … mit einem Mal sprang er aus dem Bett.

Aus den Taschen des Blazers riss er die Ampullen, den Notizblock, den Stadtplan und die anderen Gegenstände hervor. Er breitete den Plan über der Bettdecke aus, suchte mit dem Zeigefinger den Ort, an dem er sich befand, und zuckte zusammen. Das Hotel war mit einem blauen Kringel markiert. Allerdings lag der Kringel etwas unscharf über dem Viertel … es konnte auch die Kommune gemeint sein und nicht das Hotel. Oder ein anderes Haus in der Straße. Nein, sicher war die Kommune gemeint! Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Allerdings nur eine Sekunde lang. Dann entdeckte er einen zweiten Kringel einige Straßen weiter, dann sah er, dass über den gesamten Plan hinweg reihenweise Straßen und Häuser angestrichen und umkringelt waren. «Wer macht denn so was?», sagte er zu sich selbst. «Ein Postbote?»

Die meisten Markierungen lagen auf Targat. Carl zählte knapp dreißig blaue Kringel. Aber alle neuralgischen Orte, also alle Orte, die in seinem Leben in den letzten Tagen eine gewisse Rolle gespielt hatten (das Sheraton, Adil Bassirs Villa, Dr. Cockcrofts Praxis usw.), waren nicht markiert. Die Bar, in der er Risa getroffen hatte, war nicht markiert. Die Werkstatt, in die ihn die zwei Männer gelockt hatten, war nicht markiert. Helens Bungalow war nicht zu finden. Er nahm den Kugelschreiber zur Hand und malte damit einen blauen Kringel ins Niemandsland der Wüste, etwa dort, wo er die Scheune vermutete. Es war ein anderes Blau. Er trat ans Fenster, schraubte zum zweiten Mal den Kugelschreiber auf und hielt die Mine ins Licht. Chromsilbern, fünf oder sechs Millimeter im Durchmesser. Vorne ein schmales, mit einer Feder umwundenes Stück, am hinteren Ende ein blauer Plastikstöpsel, der sich nicht herausziehen ließ. Auch hier ein abgeschabter Aufdruck des Herstellers: Szewczuk. Er sah sich die Einzelteile des Kugelschreibers noch einmal genau an. Zwei Hülsen, ein gezacktes Stück Plastik, ein Teil der Druckmechanik, die Mine, den Ring und die Feder. Er drückte die Feder zwischen zwei Fingern zusammen, sie bog sich und sprang klickend gegen die Fensterscheibe.

Dahinter, ein Stockwerk tiefer, sah Carl eine Gruppe von Männern durch die Straße rennen. Ein Nachzügler folgte ihnen humpelnd. Carl steckte das Ende der Mine in den Mund und schaute ihnen nach. Ein ferner Schrei war zu hören, und mit einem Mal schrie er selbst … eine Perlenschnur feiner Blutströpfchen landete auf der Fensterscheibe.

Mit den Zähnen hatte er den blauen Plastikstöpsel gewaltsam herausgerissen und sich an der Lippe verletzt. Die Mine war zu Boden geklackert. Er hüpfte vor Schmerz auf einem Bein. Dann hob er die Mine auf, hielt sie vors Auge und versuchte in das dunkle, offene Ende zu spähen. Er drehte die Öffnung nach unten und schüttelte. Zwei längliche Metallkapseln mit abgerundeten Ecken fielen in seine Hand. Die Kapseln glichen einander vollkommen. Sie waren perfekt zylindrisch, hatten die Farbe matten Silbers und sahen schon auf den ersten Blick so anders aus als die anderen Teile des Kugelschreibers, dass Carl nicht eine Sekunde lang zweifelte, was er da gefunden hatte. Um die Mitte jedes Zylinders lief eine unscheinbare Naht. Im Bad wusch er das Blut von der Lippe, dann warf er sich die Kleider über und rannte hinaus.

44. LA CHASSE À L’OUZ

Nicht eine einzige fortschrittliche Idee begann mit einer Basis in der Masse, sonst wäre sie eben nicht fortschrittlich gewesen.

Trotzki

Das Erste, was er auf der Straße sah, war ein junger Mann mit einer geschulterten Sichel, dem andere folgten. Es wurden immer mehr. Carl versuchte, den Weg zur Kommune einzuschlagen, doch schon bald war auf der Straße kein Durchkommen mehr. Ohne erkennbaren Grund schlossen sich plötzlich vor ihm Gruppen zusammen und zerstreuten sich wieder. Junge Männer blockierten die Straße, rannten umher, hakten einander unter. War anfangs kein Ziel erkennbar, zog fernes Rufen die Menge bald in eine Richtung. Carl sah Hacken, Schaufeln und Äxte. Den Hauptstrom bildeten junge Männer in seinem Alter. Aber auch ein paar Greise waren zu sehen, kleine Kinder mit Pfeil und Bogen liefen am Rand und wurden an die Häuser gedrückt. Auf der ganzen Straße keine einzige Frau. Carl blieb stehen, versuchte ein paar Schritte gegen die Flussrichtung und wurde gestoßen, angerempelt und mitgerissen. Den Blazer, in dessen Innentasche er den Kugelschreiber gesteckt hatte, hielt er fest umklammert über dem Arm. Zur Seite hindrängend versuchte er, in kleinere Gassen auszuweichen, aber aus allen kleineren Gassen strömte ihm die Menge entgegen.

Dicht über ihm öffnete sich ein Fenster, und eine zahnlose Alte keifte die Männer an. Sofort liefen sie hin, sie spuckten, sprangen am Fenster hoch und schlugen mit Fäusten und Stöcken nach ihr, bevor es der Frau gelang, die Fensterläden zuzuzerren.

Der Strom der Hauptstraße vereinigte sich mit anderen Strömen aus Seitenstraßen und spülte alle zum Suq. Dort verlor sich die Richtung sofort. Das Zentrum der Bewegung schien erreicht und gleichzeitig leer. Man ging im Kreis herum und durcheinander. Formationen, die sich auf dem Weg gefunden hatten, lösten sich auf. Bei alldem herrschte ein sonderbarer Mangel an Begeisterung, und Carl fühlte sich an den Film erinnert, den er am Abend zuvor mit Helen im Fernsehen angeschaut hatte. Ein Tierfilm. Ein silbern blinkender Fischschwarm, der in einem Wasserblock steht und ruckt und in dessen Rucken sich von Sekunde zu Sekunde deutlicher die Ankunft der Haie mitteilt. Die Gesichter rund um ihn ausdruckslos vor Erwartung.

Dahintreibend fragte Carl sich, wo die Kinder und Jugendlichen geblieben waren; er entdeckte sie auf den Dächern rund um den Suq, wo sie mit Pfeil und Bogen standen. Er selbst versuchte, nichts mehr gegen die Bewegung zu unternehmen. Nur nicht auffallen.

Die Unruhe wurde fühlbarer, und plötzlich schien es, als habe es irgendwo eine Stockung gegeben, die sich rückwärts durch die Masse fortsetzte. Ein kurzer Stillstand, dann ein spitzer Schrei, und die Menge spritzte aus dem Zentrum fort, stürzte als Welle gegen Häuser und Mauern und spülte in die umliegenden Gassen. Carl fand sich eine Treppe am höchsten Gebäude des Suqs hinaufgedrückt und von Körpern einbetoniert.

Von seiner erhöhten Position überblickte er den in der Mitte nun fast leeren Suq. Ein paar Knüppel und eine einsame Sandale waren dort zurückgeblieben, dazu ein schmächtiger Junge mit verdrehtem Bein und aufgerissenen Augen, der einsamste Mensch auf der Welt. Auf seine Ellenbogen gestützt kroch er über die Erde und drehte dabei panisch den Kopf hin und her — bis sein Blick an einer Seitenstraße hängenblieb. Ein Raunen ging durch die Menge. Zwischen den Häusern lugte etwas hervor, das wie eine riesige, dunkle Schnauze mit zitternden Schnurrhaaren aussah.