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«Ouz! Ouz! Ouz! Ouz!»

Die Schnauze glitt zentimeterweise hervor. Dichtes, buschiges Fell, hängender Unterkiefer, zwei riesige Hauzähne im Maul. Kleine, bolzendicke Beinchen baumelten an den Seiten des Tiers. Es hatte mit nichts Ähnlichkeit, was Carl je gesehen hatte. Der dreieckige Kopf würde an einen Marder erinnert haben, wenn der Marder nicht die Größe eines Fünftonners gehabt hätte. Vereinzelte Schreie — und mit blutroten Knopfaugen schwenkte das Tier in Carls Richtung. Es schien ihn zu fixieren, eine halbe Sekunde lang. Dann schoss es vom Brüllen der Menge begleitet quer über den Suq in eine ferne Seitenstraße. Männer mit hocherhobenen Äxten folgten sofort. Nur wenige Augenblicke später tauchte das Tier aus einer anderen Straße wieder auf, lief erneut über den Suq und begann sich wie rasend im Kreis zu bewegen, eine immer größere Menschenmenge hinter sich herziehend. Das Entsetzen hatte sich in Tatendrang verwandelt, der Tatendrang in Wagemut und Blutrausch. Hinter dem Feld her stolperten die Älteren, die Langsameren, ein krückenschwingendes Kind und einige begeisterte Unbewaffnete. Sobald das Tier überraschende Wendungen machte, kreischten sie aufgeregt, und als es den Rückwärtsgang einlegte, kamen einige unter die Räder.

Ein Mann mit nacktem Oberkörper stellte sich frontal in den Weg und wurde von den Hauzähnen zur Seite geschleudert. Andere schlugen Wunden in die Flanken des Monstrums und stürzten jubelnd davon, von einem Pfeilregen begleitet. Nach nur zwei Durchgängen durch den Suq war der Pelz des Ouz gespickt mit Stacheln. Die Bogenschützen warteten nicht mehr, bis das Ziel vorüberkam, sondern schossen noch lange, wenn es außer Reichweite war. Die Pfeile klirrten zu Boden, prasselten an gegenüberliegende Häuserwände oder blieben in den Rücken verwegener Angreifer stecken. In den Pausen versuchten die zu Boden Getrampelten davonzukriechen. Niemand kümmerte sich um sie.

Unweit der Treppe, auf der Carl stand, wurde das Ouz schließlich zur Strecke gebracht. Angriffswelle auf Angriffswelle brandete gegen den kaum noch zuckenden Fellhaufen, auch die Kleinsten und Schwächsten liefen nun herbei. Der riesige Kadaver sackte knirschend zur Seite und streckte einen Vorderfuß in die Luft wie einen Schornstein. Das hintere Bein lag abgerissen da, und in den eingedellten, aufgerissenen Flanken des Tieres wurden Holzlatten und Gestänge sichtbar. Unbeeindruckt prügelte die Menge weiter auf die Mechanik ein, und als das Hinterteil Feuer fing, entdeckte Carl vier in Ritualgewänder gekleidete Männer, die aus dem aufgeschlitzten Bauch des Fetischs flüchteten. Ihres eigentlichen Ziels beraubt, warf sich die wütende Menge nun auf die Priester und prügelte stellvertretend auf sie ein, bis es diesen gelang, im Gedränge ihre Gewänder abzuwerfen und unterzutauchen.

Noch immer wie gelähmt stand Carl auf der Treppe und hielt seinen Blazer umklammert. Die Männer um ihn herum bewegten sich nicht, und minutenlang konnte er beobachten, wie die Reste des Ouz inmitten der Menge wanderten. Wie ein riesiges Molekül, das von kleineren, unsichtbaren Teilchen beschossen wird, ruckte es mit brennenden Flanken über den Platz. Tritte und Schläge trieben es umher, ein Halbstarker sprang dem Kadaver in den Nacken, sein Hemd fing sofort Feuer. Schien das brennende Ungetüm anfangs noch zufällig hierhin und dorthin zu rollen, verkündete spätestens das immer lauter, immer dringlicher und schriller werdende Geschrei, dass es ein Ziel gefunden hatte. Mit Knüppeln, Stangen und Fußstößen trieben die Männer den Feuerball in eine Seitengasse auf ein hölzernes Tor zu.

Die Sicht auf das Geschehen dahinter war Carl versperrt, aber er meinte, zwischen den Rauchschwaden einen einzelnen Europäer auszumachen, der sich der heranrollenden Flammenkugel mit lächerlichen Kung-Fu-Sprüngen entgegenstellte. Was natürlich nichts half. Das Ouz wurde gegen das Tor gedrückt, das sofort aufbrach. Schnell waren Holzstapel und Müll im Innenhof der Kommune in Brand gesetzt.

Zwei Frauen versuchten, mit einem sehr grünen, sehr komischen Gartenschlauch zu löschen. Eine andere in Jeans und Batik-T-Shirt schleppte Taschen, Teppiche und schwere Kisten zu einem großen Landrover. Helen war nirgends zu sehen. In kürzester Zeit fraßen sich die Flammen bis zum Hauptgebäude. Der Landrover nahm Anlauf, das Inferno zu durchbrechen, und blieb in den Trümmern stecken. Erneut hob triumphierendes Geschrei an und verstummte erst wieder, als der Wind umschlug und das Feuer auf die Nachbarhäuser übergriff. Zwei Straßenzüge brannten komplett nieder.

Mit zitternden Knien war Carl währenddessen die sich leerende Treppe herabgekommen. Alles drängte zum Feuer hin, und er schob sich seitwärts an der Masse vorbei bis zu der kleinen Straßeneinmündung. Dort sah er erleichtert, dass unter den wenigen noch vor der Kommune parkenden Autos kein blauer Honda mehr stand.

Doch seine Erleichterung währte nicht lang. Denn als er an sich hinuntersah, musste er feststellen, dass sein Blazer fort war. Der Arm, über dem er ihn die ganze Zeit getragen hatte, war noch angewinkelt, aber leer. Er rannte zuerst zur Treppe zurück, dann erneut quer über den Suq. Ein kleiner, mit zwei Stöcken bewaffneter Junge schleppte in seiner Armbeuge etwas leuchtend Gelbes mit sich herum. Knapp vor dem Brunnen erwischte Carl ihn. Der Junge, keine zehn Jahre alt, hielt schreiend, kratzend und beißend seine Beute umklammert, boxte Carl in den Magen und versuchte, sich loszureißen. Carl schleuderte ihn gegen eine Hauswand. Er riss den Blazer hoch und durchwühlte die Taschen nach dem Kugelschreiber. Der Kugelschreiber war nicht da. Nicht in der rechten Seitentasche, nicht in der linken. Auf allen vieren versuchte der Junge davonzukriechen. Mit einem Tritt in die Seite brachte Carl ihn zu Fall. Einen Fuß auf den Hals des Jungen gestellt untersuchte er die Innentasche des Blazers, dann wieder die Seitentaschen. Um die kleine Gruppe herum drängten sich Männer mit erhobenen Knüppeln. «Er hat mich beklaut! Das Drecksbalg hat mich beklaut!», rief Carl, während er weiter nach dem sich Windenden trat. Plötzlich ertasteten seine Finger den Kugelschreiber in der rechten Seitentasche, die er schon dreimal durchsucht hatte. Im selben Moment traf ihn ein Schlag an der Schulter. Carl taumelte, stieß die wütende Menge beiseite und stürzte, den Blazer mit dem Kugelschreiber fest an seine Brust gepresst, davon.

Hinter sich hörte er Brüllen und Rufen, und in das Rufen hinein mischte sich auf einmal eine Stimme, die ganz anders klang als die anderen. Fragend und schrill. Sich umblickend erkannte Carl ein bekanntes Gesicht … er war sich nicht sicher. Sein Verfolger schien sich ebenfalls nicht sicher zu sein. An dieser Unsicherheit erkannten sie sich. Es war einer der vier Männer in weißen Dschellabahs, die Carl am Tag seines Erwachens vom Dachboden der Scheune aus gesehen hatte. Der Mann hatte ein unscheinbares Gesicht, trug auch jetzt wieder eine weiße Dschellabah und bahnte sich mit beiden Armen einen Weg durch den Mob. Und er schien nicht allein zu sein. Hinter ihm schob sich der Dicke durch die Menge. Dahinter der Kleine.

45. MOND UND STERNE

Denn er schaut hoch im Himmel thronend auf uns nieder

Und zeigt den Menschen mitleidvoll den rechten Weg;

Und seine Sternenschrift am Himmelsfirmament

Verkündet uns hienieden Glück und widriges Geschick;

Doch ach, die Menschen, erdbeladen und vom Tod

 beschwert,

Sie fragen nicht nach solcher Schrift, sie lesen’s nicht.

Pierre de Ronsard

Carls erster Gedanke war, den Weg zum Mercedes einzuschlagen. Aber selbst, wenn es ihm gelungen wäre, das Auto zu erreichen, es aufzuschließen und den Motor zu starten, in den verstopften Straßen wäre er damit doch keinen Meter vorangekommen. Er rannte, ohne nachzudenken, und als sich ihm rechter Hand eine Gasse in die Wüste auftat, sprintete er dort hinein.