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46. DIE ELEKTRIFIZIERUNG DES SALZVIERTELS

Art thou pale for weariness

Of climbing heaven and gazing on the earth,

Wandering companionless

Among the stars that have a different birth,

And ever changing, like a joyless eye

That finds no object worth its constancy.

Shelley

Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu erleben, allein? Wer gewohnt ist, seine Nächte in einem Bett zu verbringen, in einem Haus, umgeben von anderen Häusern und Menschen, macht sich davon nur schwer eine Vorstellung. Und noch schwerer macht man sich eine Vorstellung davon, wie die Schwärze und Finsternis der Metaphysik an einem Geiste zerren kann, der in sich selbst seit Tagen nichts weiter zu erkennen vermag als ein unbeschriebenes Blatt Papier.

Als Gegensatzbegriff zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passenderes Wort wäre im Grunde Einsamkeit. War es schon tagsüber still und windstill gewesen, wuchs in der Nacht die Stille noch einmal bedrückend an. Rücklings im Sand liegend, die blutverkrustete, pulsierende Hand auf seine Brust gelegt, erblickte Carl nie gesehene Sternenmassen über sich.

Er sah das Blinken ferner Sonnen, die nichts waren als Stäubchen im All, und zu wissen, dass er selbst mit dem Rücken auf einem solchen Stäubchen lag und nur durch ein paar Körner und Kiesel, durch eine winzige Materiezusammenballung getrennt vom ewigen, schwerelosen Nichts auf der anderen Seite … die bestürzenden Größenverhältnisse kamen ihm zu Bewusstsein und mischten sich mit seiner Furcht. Furcht, dass ihm jemand gefolgt sein könne (oder beim ersten Lichtstrahl folgen werde), Furcht, dass er fliehen müsse, ohne die Kapseln zuvor wiedergefunden zu haben, Furcht, ein nächtlicher Sandsturm könne alles verwehen … und über ihm die Zumutung Tausender Galaxien, denen das alles unendlich egal war.

Satelliten zogen durch die Nacht. Ein größerer Punkt, vielleicht ein Flugzeug. Die Vorstellung von achtzig schläfrigen Körpern an Bord einer Boeing, zehn Kilometer hoch über ihm, steigerte das Gefühl des Verlassenseins bis zur Kränkung. Es wurde kalt. Carl grub sich in den Sand, und im Laufe der Nacht grub er sich immer tiefer in den Sand. Er hatte unruhige Träume, an die er sich später nicht erinnern konnte.

Der in der Nacht gezogene Kreis entpuppte sich im ersten Licht des Morgens als eine leicht eiförmige, zweifache Spirale um ein zerwühltes Zentrum. Außen um den Kreis herumgehend konnte Carl die Kapseln nirgends erspähen. Er untersuchte seine Sandalen, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht im Profil der Sohlen mit fortgeschleppt hatte, und begann schließlich an der Leeseite des Kreises, sorgfältig den Sand zu durchsieben. Er ließ ihn von der einen Hand in die andere rieseln, zweimal, dreimal, und warf ihn dann mit dem Wind hinter sich. Stunde um Stunde arbeitete er so, trug die oberste Sandschicht vor seinen Knien ab, rutschte dann ein Stück voran und siebte weiter. Die Sonne hob sich hoch und höher, und schwitzend und durstig hockte Carl in seiner kleinen Mulde. Seine Verzweiflung wuchs. Gegen Mittag hatte er über die Hälfte des Kreises abgetragen und noch immer nichts gefunden. Aus Angst, die Kapseln in einem unachtsamen Moment mit dem Sand nach hinten geworfen zu haben, siebte er ihn mittlerweile vier- oder fünfmal durch seine Hände, bevor er ihn auf den kleinen Hügel hinter sich warf. Die zunehmende Sorgfalt ließ ihn nun gleichzeitig fürchten, am Anfang nicht sorgfältig genug vorgegangen zu sein, weshalb er den fünfmal gesiebten Sand jetzt auf einen anderen Hügel warf für den Fall, dass er den weniger sorgfältig gesiebten Sand noch einmal durchsuchen müsste.

Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, als es zum ersten Mal silbern und metallisch zwischen den Sandkörnern aufblinkte, und während Carl noch schwitzend und verzweifelt auszurechnen versuchte, wie viele Stunden Arbeit noch vor ihm lägen, wenn er schon für die erste Kapsel über einen halben Tag gebraucht hatte, folgte die zweite schon drei, vier Handvoll Sand später wie ein diebisches Kind, das nicht mehr zu fliehen wagt, sobald man seinen kleinen Komplizen am Kragen gepackt hat.

Carl schob beide Kapseln zurück in die Mine, verschloss sie wieder mit dem blauen Plastikstopfen und dachte darüber nach, ob ein anderer Ort zur Aufbewahrung nicht sicherer wäre. In seinem Portemonnaie? In der Tasche des Blazers? Oder schluckte er sie am besten gleich hinunter? Er nahm seinen Schlüsselbund, den Notizblock und die Morphiumampullen aus den Seitentaschen, steckte sie in seine Bermudas und klipste den Kugelschreiber allein an der Innentasche des Blazers fest. Während er sich noch ernsthaft mit diesen Dingen beschäftigte, sah er plötzlich eine flirrende Gestalt durch die Wüste auf sich zukommen. Eine schmuddlig-weiße Dschellabah, es war ein sehr alter Mann.

Er kam direkt aus Richtung der Scheune und brüllte schon von weitem Unverständliches. Diesmal hielt er keinen Dreizack in der Hand, aber Carl erkannte ihn auch so, und während er noch die läuferischen Qualitäten seines Gegenübers und die Gefahr, die von ihm ausging, abzuschätzen versuchte, merkte er auch schon, dass das Erkennen nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Laut lallend stampfte der Alte die Düne hoch, nannte Carl die Unsichtbare Königsbrigade, zeigte sich höchst erfreut über ihr Erscheinen und gab hustend und keuchend seiner Hoffnung Ausdruck, die Leichen seiner beiden Söhne nun bald wieder in die väterlichen Arme schließen zu dürfen.

Er war schon fast neben Carl angelangt, als er plötzlich zusammenzuckte, «Mein Goldjunge!» rief und über der Leiche in den Sand stürzte. Er brauchte fast zehn Minuten, um seinen Irrtum zu bemerken. Nein, sein Sohn hatte nie einen hellgrauen Anzug getragen. Nur die Dschellabah. Aber wo war denn jetzt das Moped?

Das war eine Frage, die Carl ihm auch nicht beantworten konnte, und alles, was er der sich anschließenden, fast einstündigen, Suada des Alten entnehmen konnte, bevor er ihn friedlich schnarchend neben der Leiche zurückließ, war, in drei Sätzen zusammengefasst: dass der Alte offenbar zwei Söhne verloren hatte, von denen einer erschlagen worden war und der andere verschollen. Dass er sich auf der Suche nach ihren Leichen die Hilfe einer höchst geheimen Polizeibrigade erhoffte. Und nicht zu vergessen: Er suchte auch sein Moped.

Den Blazer als Schutz gegen die Hitze um den Kopf gewunden, wanderte Carl weiter Richtung Westen. Der brennende Durst, den er seit dem Erwachen gespürt hatte, steigerte sich ins Unerträgliche, sobald er die Ausläufer der Bidonvilles am Horizont auftauchen sah. In kraftlosen Schlangenlinien stürzte er zwischen den ersten Wellblechbaracken hindurch, rannte in einen schmutzigen Laden, kaufte eine Literflasche Wasser und trank sie im Stehen. Dann eine zweite. Mit der dritten, angebrochenen Flasche ging er um die Hütte herum, pinkelte erleichtert gegen die Rückwand und rief dem Ladeninhaber währenddessen zu, ob es hier irgendwo ein Telefon gebe. Tatsächlich stand in einem Bretterverschlag zwei Straßen weiter, wo jemand eine Art Café betrieb, ein schwarzes Bakelitgerät.

Carl ließ sich mit dem Sheraton verbinden. Helens Stimme meldete sich sofort. Helen! Sie war unverletzt, es ging ihr gut, und noch bevor sie Carl erklären konnte, wie und warum sie dem Inferno rechtzeitig entkommen war, schrie er schon in den Hörer, dass er die Mine gefunden habe … ja, die Mine, er habe sie in seiner Tasche, zwei winzige Kapseln in einem Kugelschreiber, er wiederhole, in einem Kugelschreiber … doch, er sei ganz sicher, dies sei die Mine, und sie müsse ihn sofort abholen, weitester Ausläufer des Salzviertels gen Osten, er wiederhole, weitester Ausläufer des Salzviertels, letztes stinkendes Café an der mittleren Straße durch die Baracken … dort warte er auf sie. An der größten Straße. Also der breitesten. Am östlichsten Punkt. Ein Bretterverschlag mit Telefon. Er hörte den eigenen Enthusiasmus und Helens Aufregung, hörte den Befehl, sich nicht von der Stelle zu rühren, sie komme sofort, und als er auflegte, stand der Wirt mit einem Teller zerkochter Suppe hinter ihm, den er hochhielt wie ein Tablett erlesener Spezereien. Das ginge aufs Haus.