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«Was hast du gesagt?» Er ging ein paar Schritte zurück. Aus der Nähe erst sah er, wie jung sie war. Höchstens sechzehn. Blutige Male an den Unterarmen, Gesicht und Hals schwärenübersät.

«Arschloch hab ich gesagt.»

«Vorher.»

«Trottel! Du Trottel.» Sie stieß sich von der Wand ab.

«Du hast Charly gesagt.»

«Trottel hab ich gesagt. Arschloch, Charly, Chéri, du Kacke. Mein Liebling. Hast du was dabei?»

Sie streckte die Hand nach ihm aus, er wich zurück.

Aus ihren Gesten und ihrem Verhalten vermochte er nicht zu erkennen, ob sie eine Prostituierte, eine Geisteskranke oder schon wieder eine Nymphomanin war.

«Wir kennen uns», sagte er unsicher.

«Soll ich dir einen blasen?»

«Das war eine Frage.»

«Das war auch eine Frage.»

«Warum hast du mich Charly genannt?»

Sie schubste ihn an den Schultern von sich weg und fuhr fort, ihn zu beschimpfen.

Einige Passanten blieben stehen und lachten. Die Männer im Kaffeehaus gegenüber erhoben sich von ihren Sitzen, um besser sehen zu können. An der Kreuzung, nur einen Steinwurf entfernt, sah Carl zwei Uniformierte. Die Situation war unangenehm. Das Mädchen hörte nicht auf, ihn zu beleidigen, ihn weiter von sich fortzustoßen und gleichzeitig ihre Dienste anzubieten.

«Ich hab kein Geld.»

Sie klopfte seine Hosentaschen ab und griff ihm unter beifälligem Gejohle der Umstehenden in den Schritt. Er sprang zurück. Sie zog ihn in den nächsten Hauseingang. Einen langen Gang hinunter, in ein winziges Zimmer. Auf dem Boden lag eine Matratze ohne Bettzeug. Die Erinnerung an die biedere Frau in Tindirma erlosch sofort. Plötzlich schien aller Elan das Mädchen verlassen zu haben. Zitternd stand sie mitten im Raum.

«Kennen wir uns?», fragte Carl erneut, der sich nun fast sicher war, dass sie einander nicht kannten.

«Hast du was dabei?»

«Kennst du mich?»

«Willst du die Psychonummer?»

«Du hast Charly gesagt.»

«Ich kann auch Alphonse zu dir sagen. Oder Rashid. Herr General. Ich blas dir einen.»

Sie zerrte an seinen Hosen. Er hielt ihre Hände fest.

«Du hast was dabei!», kreischte sie in höchster Aufregung.

«Ich will nichts von dir. Ich will nur wissen, kennst du mich?»

Sie zeterte weiter. Ihr flackernder Blick, ihre verständnislos-verzweifelte Mimik … nein, sie kannte ihn nicht. Ein verwirrtes, drogensüchtiges Straßenmädchen. Carl griff nach der Türklinke, und das Mädchen schrie: «Bleib stehen, du Scheiße! Du kannst jetzt nicht abhauen! Wenn du und dein beschissener Kumpel das nicht auf die Reihe kriegen —»

«Was für ein Kumpel?»

«Willst du einen Dreier? Ich hol die Titi.»

«Was für ein Kumpel?»

«Du widerliches Schwein.»

An der Tür stehend, die Hand auf der Türklinke, stellte er weitere Fragen, vergebens. Alles, was er zu hören bekam, war eine Flut von Schimpfworten. Carl ließ die Klinke los und unternahm einen letzten Versuch. In möglichst beiläufigem Ton fragte er: «Wann hast du Cetrois zuletzt gesehen?»

«Hä?»

«Antworte einfach.»

«Soll ich dir in den Mund pissen?» Sie versuchte, einen Zeigefinger zwischen seine Lippen zu bohren.

Er machte einen Satz zurück.

«Leg dich hin, ich setz mich auf dein Gesicht und piss dir in den Mund.»

«Wann hast du ihn zuletzt gesehen?»

«Wen?»

«Cetrois.»

«Schlag mich. Du kannst mich schlagen. So fest du willst. Ich kack dir auf die Brust. Ich blas dir das Hirn raus. Ich mach, was du willst.»

«Dann antworte auf meine Frage.»

«Welche Frage?» Tränen liefen über ihr zerstörtes Kindergesicht. Jammernd sackte sie auf die Knie. «Gib mir das Zeug. Ich weiß, du hast es.»

Er steckte beide Hände in die Taschen seiner Bermudas und sagte, jedes Wort einzeln betonend: «Kennst du Cetrois?»

Sie wimmerte.

«Weißt du, wo er ist?»

«Du kranke Psychoscheiße.»

Warum antwortete sie nicht einfach? Oder wenn sie ihn nicht kannte, warum sagte sie nicht einfach, dass sie ihn nicht kannte? Er hob ihr Kinn hoch, zog eine der braunen Ampullen aus seiner Tasche und beobachtete die Reaktion des Mädchens.

«Einfache Frage, einfache Antwort. Wo. Ist. Er.»

Einen kurzen Moment lang blickte sie ihn apathisch an. Dann stürzte sie sich auf ihn. Ihr federleichter Körper prallte von seinem ab. Er hielt den Arm mit der Ampulle senkrecht in die Luft.

«Antworte.»

«Gib’s mir!» Sie hopste an seinem Arm auf und ab, fluchte wie ein Seemann, riss an seinen Kleidern. Schließlich versuchte sie, an seinem Körper hochzuklettern, den Blick zielstrebig auf die erhobene Faust gerichtet.

«Du kriegst das Zeug … auch wenn du es nicht weißt. Aber antworte. Kennst du mich?»

«Ich scheiß dir in den Mund.»

«Kennst du Cetrois?»

«Du krankes Schwein!»

«Wo ist er? Was macht er?»

Kreischend wie eine Feuerwehrsirene hing sie an seinem Hals. Mit ihren kleinen Fäusten trommelte sie auf seinen Rücken. Ihr Busen war plötzlich unter seinem Kinn, ein Geruch nach Frauenschweiß, Verzweiflung und Erbrochenem. Vielleicht lag es an diesem Geruch, vielleicht an der körperlichen Nähe, vielleicht an der Selbstverständlichkeit, mit der sie jede Kommunikation ins Leere laufen ließ, dass er auf einmal den Eindruck hatte, diese Frau stehe ihm näher, als ihm lieb sein konnte. Im furchtbarsten Fall war sie seine Geliebte aus einem früheren Leben. Fast gleichzeitig und parallel dazu hatte er den Eindruck, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Dass sie gar nichts wusste. Dass sie einfach verrückt war, eine Prostituierte mit von Drogen rausgeschossenem Hirn, die weder ihn noch einen Kumpel kannte und jeden Freier mit Charly anredete. Und um Stoff anbettelte. Vielleicht war Charly hier der Standardname für Freier? Und hatte sie überhaupt Charly gesagt? Hatte sie nicht vielleicht von Anfang an Chéri gesagt?

«Gib mir das Morphium», brüllte sie, ließ sich auf den Boden fallen und führte eine Choreographie der Selbsterniedrigung auf wie ein dreijähriges Kind.

«Du kriegst es», sagte er mit einem Blick auf die fast unleserliche Beschriftung der Ampulle. «Beantworte nur die eine Frage. Kennst du mich?»

Sie schluchzte.

«Ich hab sogar zwei davon.» Er holte die andere Ampulle aus der Tasche. «Oder wenn du mich nicht kennst — kennst du meinen Kumpel?»

«Du Schwein.»

«Wann hast du Cetrois zuletzt gesehen?»

«Du Psychoscheiße! Du Dreck!»

Psycho. Das dritte Mal. Was hatte sie immer damit? War das einfach nur ein Schimpfwort für sie, oder hatte das irgendeine Bedeutung? War sie in Behandlung? War er ihr Psychologe? Oder war er ein stadtbekannter Irrer und sie sein Opfer? Aber sooft er sie fragte, so wenig bekam er Antwort. Versuchsweise ließ er schließlich eine Ampulle fallen. Glassplitter, ein Verzweiflungsschrei. Das Mädchen stürzte sich auf den Fußboden und leckte Flüssigkeit und Glassplitter mit der Zunge auf.

«Kennst du mich jetzt?»

«Fick deine Mutter!»

«Kennst du Cetrois?»

«Gib mir die andere!»

«Wo ist er? Was macht er? Warum antwortest du nicht?»

Sie tobte und schrie, und so langsam dämmerte es ihm, dass sie gar nichts wusste. Sie kannte ihn nicht, sie kannte niemanden. Sie hatte ihn einfach auf der Straße mit irgendeinem Namen angesprochen, und er war darauf reingefallen wie der dümmste Freier der Welt. Mit einem Rest von Mitleid warf er ihr einen Geldschein hin und ging hinaus.

«Du willst wissen, was Cetrois macht?», brüllte sie ihm hinterher.

Er sah sie am Boden kauern. Sie zog Glassplitter aus ihrer Zunge und lachte, blutige Fäden zwischen den Lippen.