Carl sagte nichts.
«Also wenn du mich fragst, ist das ganz logisch», sagte Helen. «Natürlich kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Aber wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, bevorzuge man die einfachste. Ich glaube erstens nicht, dass du die Männer falsch verstanden hast. Und zweitens glaube ich nicht, dass du das Mädchen falsch verstanden hast. Ich würde von drei Parteien ausgehen.»
Sie umkringelte der Reihe nach die Gruppen auf dem Papier. «Du bist die eine Partei. Deine Verfolger sind die zweite, und die Fellachenfamilie ist die dritte. Ein Alter mit zwei Söhnen. So weit einverstanden? Und ich geh mal davon aus, dass zum fraglichen Zeitpunkt nur die beiden Söhne in der Scheune waren. Vielleicht auch der Alte, aber mit Sicherheit die Söhne. Der Flaschenzug-Sohn und der Moped-Sohn. Und jetzt kommst du. Du bist auf der Flucht vor diesen Männern hier, und dann stürmst du mit etwas, das aussieht wie ein Sturmgewehr, in etwas, das aussieht wie eine Schwarzbrennerei. Ich nehme an, der Empfang wird nicht allzu herzlich gewesen sein. Du bist hektisch, weil deine Verfolger hinter dir her sind, die Söhne sind hektisch, weil sie Schwarzbrenner sind, und du fuchtelst mit diesem Gewehr herum, das, wie du selbst sagst, auch aus der Nähe täuschend echt aussieht. Ist es in der Scheune dunkel oder hell? Es ist dunkel. Du hast also ein AK-47 dabei, und ganz egal, was du ihnen erzählst, sie wissen, dass es Schwierigkeiten gibt. Vielleicht bittest du um Hilfe, vielleicht drohst du ihnen sogar. Und vielleicht sehen sie auch schon deine Verfolger anrücken, die sie für deine Kumpane halten, und ziehen dir prophylaktisch eins von hinten über. Mit einer leichten Platzwunde hieven sie dich auf den Dachboden … oder vielleicht bist du auch selbst auf den Boden geklettert, und sie kriegen dich erst dort zu fassen und ziehen dir da eins über, egal. Und jetzt geraten sie richtig in Panik. Einem den Schädel demoliert, drei weitere im Anmarsch. Also schnappt sich Sohn Nummer eins das Moped und rast in die Wüste. Vielleicht, um Hilfe zu holen, vielleicht auch nur, um zu fliehen. Egal. Und als deine Verfolger die Scheune erreichen, ist nur noch Sohn Nummer zwei da, den sie fragen, wo Cetrois hin ist, und der nicht antwortet. Weil er ja auch nichts weiß. Und da schlagen sie ihm mit dem Wagenheber den Schädel ein, wie sie kurz darauf stolz dem Vierten vermelden. Während du oben bewusstlos liegst und der Moped-Mann dir praktisch das Leben rettet. Denn dem jagen sie als Nächstes nach. Vermutlich erwischen sie ihn auch, hier hinten irgendwo, merken, dass es der Falsche ist, kommen zurück und suchen dich. Aber Monsieur Cetrois ist mittlerweile abgehauen, und die Bilanz für den alten Fellachen lautet: ein Sohn erschlagen, einer verschollen. Alle Rätsel gelöst.»
Helen trank den letzten Schluck Kaffee und ging in die Küche, um neuen aufzusetzen.
Verwirrt betrachtete Carl die Zeichnung, die Helen so gründlich mit Pfeilen und Kreuzen bedeckt hatte.
«Und das Holzgewehr? Warum lauf ich mit einem Holzgewehr durch die Wüste?»
«Ich würde vorschlagen, dass du dich das mal selber fragst.»
Carl versuchte, in Gedanken alles noch einmal durchzugehen. Er zählte die Strichmännchen, er nahm den Kugelschreiber in die Hand und las die Aufschrift «Sheraton». Die Sicherheit und Leichtigkeit, mit der Helen über alle seine Einwände hinweggegangen war, kränkte und verwirrte ihn. Es fiel ihm schon schwer, sich das Ganze im zeitlichen Ablauf vorzustellen. Wieso konnte Helen so mühelos diese Puzzleteile zusammensetzen? Und konnte sie das wirklich? Er fühlte sich verpflichtet, einen Fehler zu finden. Mit dem Finger auf das Strichmännchen deutend, das ihn selbst darstellte, sagte er: «Als ich bei Adil Bassir war, hat er von zwei Männern gesprochen.» Er vermied das Wort Würstchen. «Zwei Männer, ich und mein Partner.»
«Der muss ja nicht dabei gewesen sein.»
«Nein … aber bisher dachte ich immer, dass Cetrois mein Partner ist. Wenn ich Cetrois bin, wer ist dann mein Partner?»
«Ist das jetzt eine wichtige Frage?» Helen schraubte die Kaffeedose auf und suchte nach dem Dosierlöffel. «Oder können wir uns kurz der Frage zuwenden, ob es wirklich Schulkinder waren, die dir den Blazer geklaut haben?»
«Ich weiß nicht, was dich so sicher macht.»
«Und wie die aussahen.»
«Vergiss doch mal die Kinder! Was hast du immer mit diesen Kindern? Die findest du sowieso nicht wieder.»
«Ich kann dir sagen, was ich mit denen habe. Weil es nämlich meines Wissens in solchen Slums gar keine Schulen gibt.»
«Und wie bist du da überhaupt draufgekommen?», fragte Carl, ohne auf Helens Einwand einzugehen. Er hob die Zeichnung hoch und schlenkerte sie durch die Luft.
«Weil auch die Personenbeschreibung stimmt. In der Kommune. Fowler und die anderen haben ziemlich genau einen Mann wie dich beschrieben. Karierter Anzug, schlank, dreißig Jahre und eins fünfundsiebzig. Arabischer Einschlag. Wobei das auch alles war, was sie wussten. Mehr wussten sie nicht. Was du da in der Kommune gewollt hast, hast du entweder nicht gesagt, oder sie haben’s nicht begriffen. Vorgestellt haben musst du dich wohl als Journalist, aber dann hast du dich anscheinend nur nach den Wertgegenständen erkundigt, nach dem Geldkoffer und so weiter, und daraus haben sie dann den Schluss gezogen, dass du von der Versicherung bist, die sie gerade im großen Stil bescheißen wollten. Cetrois, Versicherungsmann. Oder sehr inkompetenter Journalist. Irgendwas in diese Richtung.»
49. TRÜBE GEDANKEN
Alert! Alert! Look well at the rainbow. The fish will rise very soon. Chico is in the house. Visit him. The sky is blue. Place notice in the tree. The tree is green and brown.
Spät in der Nacht kroch er zurück ins Bett. Helen deckte ihn eigenhändig zu, saß noch eine Weile auf dem Bettrand und betrachtete ihn mit einem Blick, der ihm, wären seine Augen nicht bereits geschlossen gewesen, wohl nicht gefallen hätte.
Die Nacht immerhin — die letzte Nacht — verbrachte er friedvoll. Früh am Morgen riss es ihn aus dem Bett. Jemand hatte ihn am Kragen gepackt und schleifte ihn in das andere Zimmer. Mit einer Stimme, die weder fragend noch aufgebracht war, sondern nur kalt und schneidend, sagte Helen: «Was ist das? Was. Ist. Das.»
Carl stand in seiner Unterhose mit dem ausgeleierten Gummiband neben ihr, vor sich zwölf kleine Papierschnipsel, locker zu drei Rechtecken zusammengepuzzelt. Er erkannte sie sofort wieder. Ein dreizehnter Schnipsel lag etwas abseits. Er war an den Rändern leicht angekokelt, bestand aber aus dem gleichen Material wie die anderen und zeigte das gleiche rötliche Muster. Dreimal Ausweispapier. Dreimal «Offizier des Tugendkomitees».
Sich darüberbeugend sagte Carl nun selbst: «Was ist das?»
«War in deinen Bermudas. Ich wollte die heute in die Wäsche geben. Und jetzt lüg mich nicht an.»
Carl rieb sich mit dem Handballen über die Brust, und ohne noch zu begreifen, warum Helen derart aufgebracht war, berichtete er schon von der Leiche in der Wüste, bei der er die Ausweise gefunden hatte. Oder die Schnipsel. Eine Leiche mit einem hellgrauen Anzug und einer Drahtschlinge um den Hals, über die er zufällig gestolpert war … da habe er das her. Aus den Taschen.
«Und was ist das?» Helen tippte mit dem Zeigefinger auf drei mit roter Schreibmaschinenschrift ausgefüllte Felder.
Carl las und stutzte: Adolphe Aun … Bertrand Bédeux … Didier Dequat.
«A, B, D!», sagte Helen laut. «Un, deux, quat!»
«Scheiße.»
«Ja, Scheiße, Monsieur Cetrois. Und jetzt erzähl mir keinen Mist, wo du die herhast. Erzähl mir überhaupt keinen Mist mehr! Das mit der Leiche kannst du dir sonst wo hinstecken. Du hast lange genug den Amnestiker gespielt, und jetzt bitte: Lüg. Mich. Nicht. An.»