«Nein, niemand, Mutter», sagte sie.
«Ja, gut», sagte sie.
«Dann hätte ich es heute Morgen nicht probiert», sagte sie.
Carl versuchte, sich vorzustellen, was Helens Mutter auf der anderen Seite des Ozeans wohl sagte. Dann dachte er wieder an das Holzgewehr. Er drehte und wendete es im Geiste hin und her.
«Ja … ja. Nein, ist nicht aufgetaucht und taucht auch nicht mehr auf. Ganz sicher. Ich hab mit der Firma telefoniert, sie schicken einen neuen. Drei neue wären natürlich besser … drei sind immer besser als einer, ja … sofort, wann denn sonst? Ich geh jetzt an den Strand … so wie überall … ja. Carthage ist gut. Grüß ihn von mir», sagte Helen und hängte auf.
«Wer ist Carthage?», fragte Carl.
Helen antwortete nicht.
«Wer ist Carthage?»
«Mein Hund. Und denk dran: Wenn ich wiederkomm, ist der Bungalow leer.»
Sie schulterte ihre Badesachen und ging hinaus.
Carl sammelte die Papierschnipsel vom Boden auf, legte sie mit zittrigen Fingern noch einmal zusammen und sah, was er zuvor schon gesehen hatte: lächerliche Ausweise eines lächerlichen «Tugendkomitees». Er wischte sie wieder vom Tisch, trat auf die Terrasse hinaus und sah einer bereits sehr winzigen Helen hinterher, wie sie zwischen den Pinien verschwand. Das Meer rollte in schmalen Wellen auf den Strand. Kaum war Helen verschwunden, tauchte ein Mann auf dem Weg auf und blieb zwischen den Bäumen stehen. Er war sehr weit entfernt, doch hatte Carl den undeutlichen Eindruck, als starre er ihn an. Ein, zwei Minuten, dann drehte der Mann sich um und ging den Weg zurück zum Strand.
Carl ließ sich in einen Liegestuhl sinken. Er spürte eine bleierne Müdigkeit. Irgendetwas Unbegreifliches hatte ihn zutiefst erschöpft. In seinem Kopf rasten die Gedanken nicht mehr, sie stolperten nur noch hilflos umher. Aus Angst, Helen noch weiter zu verärgern, wenn er ihrem Gebot nicht Folge leistete, drückte er sich ächzend aus dem Stuhl wieder hoch, trottete von der Terrasse den Weg hinunter zur zweiten Terrasse und kletterte dort über die Brüstung. Hangabwärts taumelnd sah er sich im Unterholz nach einem geeigneten Platz zum Schlafen um und sank im Schutze eines Rutenginsters hin. Das Licht war körnig. Er lag auf dem Bauch. Dann drehte er sich auf den Rücken. Von Zeit zu Zeit schreckte er hoch, als habe ein Gedanke ihn gestreift, aber immer wieder überwältigte ihn die Lethargie. Einen Entschluss zu fassen fühlte er sich nicht imstande. Sein Blick wanderte zu den schwankenden Baumkronen, zwischen denen der Abendhimmel stand wie violettes Glas, und er wünschte sich, er wäre tot.
50. CONTRAZOOM
Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich, und auch die Frage ist verworren und das menschliche Leben kurz.
Endlose Herden ungelenker, hölzerner Ziegen, in deren Innerem als Priester verkleidete Holzwürmer arbeiteten, staksten durch seine Träume. Mit einer Handbewegung, als müsse er die Gespenster vertreiben, setzte er sich im Morgenlicht auf.
Nachdem er eine Viertelstunde oder länger vor sich hingebrütet hatte, lief er zum Bungalow hinauf. Zwanzig oder dreißig Schritt unter der Terrasse zögerte er. Er kniete sich hinter einen Baum und weinte. Und wartete. Schließlich klopfte er an die Tür. Er drückte sein Auge von außen an den Spion, klopfte noch einmal und ging dann um das Haus herum und schaute in jedes Fenster. Die Jalousien im Schlafzimmer waren nicht herabgelassen. Das Bett war leer. Helens Koffer stand nicht mehr auf der Kommode.
Mit dem Zweitschlüssel, den er immer noch in der Tasche trug, öffnete er die Tür. Er rief Helens Namen. Ging von Zimmer zu Zimmer. Alles war ausgeräumt. Auf dem Nachttisch lag ein nicht ausgefülltes Formblatt des Hotels. Allein die chromblitzende Maschine mit der polnischen Aufschrift, die sie gemeinsam in der Werkstatt eingeladen hatten, stand noch auf der Anrichte. Und ein Korb mit Obst.
Nächst der Verzweiflung, die Carl bei seinem ersten Erwachen in der Scheune empfunden hatte, als er spürte, dass sein Gedächtnis nicht zu ihm zurückkehrte, war dies der schlimmste Moment. Und er wusste nicht einmal, ob Helen den Bungalow seinetwegen so eilig verlassen hatte. Über Reisepläne hatten sie nicht gesprochen.
An der Rezeption war der Hauptschlüssel abgegeben worden, wie ein Hotelangestellter mit einem Maximum an Verbindlichkeit mitteilte, und der Bungalow war noch für zwei Tage bezahlt. Auskünfte über die überstürzt abgereiste amerikanische Geschäftsfrau hingegen gab es nicht. Welche Geschäftsfrau? Heute Morgen? Nein, der Nachtportier sei nicht mehr im Haus.
Carl setzte sich auf die Terrasse des Bungalows, aß einen Apfel und schaute über die Pinien aufs Meer. Er öffnete den Kühlschrank. Das Gefrierfach. An der chromblitzenden Maschine las er noch einmal die Aufschrift mit den technischen Daten. Im Fernsehen lief leise grau flimmernd ein Spielfilm. Zum zweiten Mal klaubte er die Papierschnipsel aus dem Mülleimer, puzzelte sie aber nicht mehr zusammen. Er schüttelte die Bettdecke auf. Er hob die Kopfkissen hoch. Unter einem fand er einen Pullover, den er sich auf das Gesicht hielt und durch den er einige Minuten lang hindurchatmete, bevor er ihn sich überstreifte. Er schaute unter das Bett.
Dort entdeckte er Holzspäne eines zerschnitzten Bleistifts und ein rosa Gummiband, in das einige lange, blonde Haare verknotet waren.
Im Bad fand Carl eine leere Shampooflasche, und immer wieder blieb er vor der chromblitzenden Maschine stehen. Warum hatte Helen sie mit einer Mine verwechselt? Hatte sie das überhaupt? Er untersuchte den zweipoligen Einbaustecker an der Seite und sah sich nach einem Kabel um, das er zweckentfremden konnte. Das Kabel der Nachttischlampe war fest montiert, aber der Fernseher verfügte über eine Doppelader. Allerdings passte der Stecker nicht zur Maschine.
Resigniert ließ er sich aufs Sofa fallen und schaltete mit dem Fuß die Programme um. Testbild, Testbild, Spielfilm.
«Now you listen to me. I’ll only say this once. We are not sick men.»
Er biss in den Apfelstrunk, kaute einmal und spuckte den Bissen über den Fernseher.
Unter den feuchten Obstresten flimmerte Helens Gestalt über den Bildschirm. Carl schloss einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, war es nicht Helen. Es war nicht einmal eine Frau. Es war Bruce Lee. Mit tänzerischer Leichtigkeit trat er durch ein helles Lichtviereck in einen dunklen Raum und schlug einem durch sein Lachen als bösartig erkennbaren Mann mit der Handkante den Kehlkopf ein. So, wie Helen es gemacht hatte. Genau so.
Weitere Apfelreste aushustend und spuckend und kopfschüttelnd ging Carl über die beiden Terrassen hinunter zum Strand. Dort sonnten sich einige bleiche Europäer. Eine Sturmböe rollte ihre Handtücher auf.
Auf schwarzem Lavagestein, das dem Gelände zur einen Seite hin eine natürliche Begrenzung gab, setzte Carl sich an eine windgeschützte Stelle und starrte auf die Wellen, die ihren zeitlosen Geschäften nachgingen.
Schräg unter ihm hockten zwei Berberinnen in blauen Tüchern. Ein junges Mädchen von vielleicht zwölf Jahren und eine Greisin mit Totenkopfgesicht, Augen wie Löcher. Die Greisin hatte ein dünnes, mit schwarzer Paste bestrichenes Stöckchen in der Hand. Sie presste den Kopf des Mädchens an ihre Brust, krallte Zeige- und Mittelfinger auf ein Auge und zog den Stock durch die Lider des Mädchens. Das Mädchen öffnete blinzelnd das dick schwarz umrandete Auge.
Je länger er darüber nachdachte, desto weniger konnte Carl an Helens Vorwürfen etwas Ungerechtes finden. Sie war ihrer Logik gefolgt, und der Logik folgend hatte sie recht. Alles, was in seinem kurzen, erinnerbaren Leben geschehen war, war unwahrscheinlich. Eine geradezu beängstigende Fülle von Unwahrscheinlichkeit. Dazu seine Familie, sein Kumpel, das Holzgewehr … die polnische Maschine. Nichts ergab einen Sinn. Er versuchte, sich die Worte der Männer in der Werkstatt ins Gedächtnis zurückzurufen, und fing einen scheuen Blick des Mädchens aus dick schwarz umrandeten Augen auf. Die Greisin machte sich mit Henna an einer Hand des Mädchens zu schaffen, und Carl überlegte, was einen amerikanischen Kosmetikkonzern auf die Idee bringen konnte, eine seiner Angestellten in ein Land zu entsenden, wo man mit schwarzer und roter Paste eigentlich ausreichend bedient war. Helen würde sich sehr anstrengen müssen, wenn sie hier etwas verkaufen wollte … und plötzlich fiel ihm ein, was an ihrer Liste nicht gestimmt hatte. Er erstarrte. Helens Telefonliste. Die sie angefertigt hatte, während er am Strand zurückgeblieben war, während Michelle ihre Comics gelesen und der deutschen Touristin die Karten gelegt hatte. Als Helen zum Bungalow hinaufgegangen war, war es zwischen zehn und elf Uhr gewesen. Sie war nicht lange fortgeblieben, vielleicht eine Viertelstunde. Und in dieser Zeit hatte sie angeblich Freunde und Bekannte in Paris, London, Sevilla, Marseille, New York und Montreal angerufen und sie gebeten, den Namen Cetrois im Telefonbuch nachzuschlagen … die Namen Cetrois, Cetroix, Sitrois, Setrois. Wieso fiel ihm das jetzt erst auf?