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Carl hatte Schwierigkeiten, die Straße mit der Praxis wiederzufinden. Erst an der Haustür, die er nach seinem Abschied von Dr. Cockcroft mit dem eigenen Schlüssel vergeblich aufzusperren versucht hatte, erkannte er sie wieder.

In den Fenstern brannte kein Licht. Die Tür stand offen. Carl betätigte zuerst die Klingel und tastete dann nach dem Lichtschalter im Flur. Aber das Licht funktionierte nicht, in keinem der Räume. Mit der Taschenlampe durchstöberte Carl das ganze Haus. Alle Möbel waren fort. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. Allein im Obergeschoss stand noch der dreibeinige Tisch. Die beiden Bücher waren ebenfalls verschwunden.

Mit einem undefinierbaren Geräusch der Verzweiflung öffnete Carl das Fenster. Er stützte die Ellenbogen auf den Sims und schaute über die Straße hinaus in die Nacht. Die Sterne. Die Menschen, die Häuser, die Praxis. Dr. Cockcroft, Helen, die polnische Maschine. Die Leiche in der Wüste. Er ging ins Zimmer zurück und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Wie schon zuvor hatte er das Gefühl, dass mit Nachdenken etwas zu holen sei, aber immer, wenn er die Fäden zu verknüpfen suchte, verhedderten sie sich sofort in seinen Händen, und dann fuhr ein heftiger Windstoß durch seine Überlegungen, der nicht nur alle Verknüpfungen löste, sondern auch die Fäden selbst in luftige Fernen davonwehte. Zurück blieb nichts als lähmende Dunkelheit, und das Nachdenken darüber war etwa so angenehm, wie mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.

In den wenigen Tagen, an die er sich erinnern konnte, hatte er mehr ungereimtes Zeug erlebt als mancher Mensch in siebzig Jahren. Und nun lief er Gefahr, dieses neue Leben abermals zu verlieren. Helen verschwunden, Dr. Cockcroft verschwunden, eine Arztpraxis hatte vielleicht niemals existiert. Die Mine gestohlen, Bassirs Ultimatum abgelaufen … und möglicherweise schnitt gerade jemand seinem Sohn den Finger ab oder vergewaltigte seine Frau.

Es fiel ihm schwer, Worte für seine Emotionen zu finden. Geschweige denn für seinen Zustand. Er wusste nicht, ob er überhaupt etwas empfand. Er drehte sich um und schlug den Kopf gegen die Wand. Halb betäubt trat er erneut ans Fenster und blickte hinaus. In dunklen Ecken standen dunkle Schatten. Einer der Schatten beobachtete ihn. Das kam ihm zumindest so vor. Immerhin. Entweder sein Verfolger oder seine Paranoia war nicht verschwunden. Er richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht. Sollten sie ihn doch sehen. Sollten sie sehen, dass sie ihn sehen durften. Sollten sie sehen, dass es ihm egal war. Sollten sie ruhig kommen.

51. MARSHAL MELLOW

Zwei Vietcongs wurden während eines Fluges nach Saigon vernommen. Der erste weigerte sich, die Fragen zu beantworten, und wurde aus 3000 Fuß aus dem Flugzeug geworfen. Der zweite beantwortete die Fragen sofort, dann wurde auch er hinausgeworfen.

William Blum

Aber niemand kam, und von Müdigkeit überwältigt legte Carl sich schließlich auf den Boden und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm nicht. Ein leise wummerndes Geräusch hielt ihn davon ab. Er schloss das Fenster, aber das Geräusch ging wie ein Herzschlag durch Decken und Wände. Es raubte ihm den letzten Nerv. Schließlich stand er auf, ging hinunter auf die Straße und sah sich um. Er machte ein paar Schritte aufs Sheraton zu, lief dann aber, einem plötzlichen Impuls folgend, den Geräuschen nach. Sie führten ihn zu einem auf der Rückseite von Dr. Cockcrofts Praxis gelegenen Gebäude, über dessen Eingang eine defekte Leuchtreklame hing. Die Wände rechts und links des Eingangs waren über und über mit Plakaten beklebt. Jimi Hendrix, Castles Made of Sand … Africa Unite. Und quer über alles hinweg in hundertfacher Ausführung das druckfrische Bild eines rechteckigen Gesichts mit ungeheuer breiter Kinnlade, um das herum drei kleinere Köpfe und verschiedene Musikinstrumente kreisten wie ein spärlicher Gedankenwirbel.

Marshal Mellow and his Skillet Lickers — Life!

Während Carl das zweifelhafte Englisch las, verstummte der pulsierende Rhythmus, und gedämpfter Jubel erscholl aus dem Innern des Gebäudes. Zwei Beduinen mit Joints in der Hand kurvten an ihm vorbei, dann drängte eine plötzlich aufgetauchte Busladung Touristen hysterisch zum Eingang und riss Carl mit sich fort. Er versuchte kurz, sich aus der Woge von Leibern herauszukämpfen, gab aber auf, als er am Kassentischchen vorbei und in eine dichte Wand aus Trockeneisschwaden gespült worden war.

Nach und nach wurden die Umrisse eines großen Saals erkennbar, den eine für die Gegend ungewöhnlich ausgeglichene Mischung aus Arabern, Amerikanern, Touristen, Halbstarken, Männern und Frauen füllte. Sogar eine Handvoll einheimischer Frauen war dabei. Ein einzelner, dünner Scheinwerfer stocherte durch den Nebel unter der Decke, in der Mitte der Bühne stand ein rechteckiger Mann mit ungeheurer Kinnlade in der Uniform eines amerikanischen Flottenadmirals (wenn Carl sich nicht täuschte), tippte mit dem Zeigefinger ans Mikrophon und begann, mit sehr sanfter Stimme eine Rede zu halten. Er redete, ohne seinen Körper oder auch nur einen Teil des Gesichts zu bewegen. Seine Hände waren um das Mikrophon gewickelt, die Kiefer zusammengepresst. Allein seine Lippen verschoben sich gegeneinander wie bei einer schlecht synchronisierten Zeichentrickfigur. Während Südstaatensingsang den Raum füllte, bestellte Carl an der Bar ein Wasser und atmete einen großen Schwall THC-geschwängerter Luft ein. Hinter sich hörte er vereinzeltes begeistertes Klatschen und spitze Schreie und dazu unentwegt die sanfte Stimme Marshal Mellows, die über Impulskontrolle, vierjährige Kinder, Belohnungsaufschub und Charakter sprach, über den Korea-Krieg, Mord und Totschlag und das Marshmallow-Experiment. Ob die Rede eine Art Propaganda war oder ein Musikstück einleiten sollte, blieb lange unklar. Einerseits schienen die Worte dunkel und unzusammenhängend, andererseits brachten sie die ersten Hippies im Parkett bereits zum Ausrasten. Ein seitlich auf die Bühne gekletterter junger Mann wurde vom Schlagzeuger über die Köpfe des Publikums in die dritte oder vierte Reihe zurückgeschleudert. Frauen kreischten.

Bass, Gitarre, Synthesizer und Schlagzeug trugen ebenfalls Uniform (niederes Rangabzeichen), und die rechtwinkligen, muskulösen Gesichter der Männer legten die Vermutung nahe, dass es sich tatsächlich um Angehörige der Streitkräfte handelte. Freilich waren die Zeiten nicht so, dass amerikanische Militärs im Ausland oder auch nur im eigenen Land — und schon gar nicht vor dieser zusammengewürfelten Hippiegemeinde — mit Begeisterungsstürmen oder auch nur zaghaftem Applaus rechnen durften, und Carl überlegte, ob nicht umgekehrt ihre kantigen Physiognomien die Musiker auf die Idee gebracht hatten, sich diese wohl ironisch zu verstehende Bühnenkleidung zuzulegen.

Das Schlagzeug machte einen kleinen Wirbel, und sofort drängte der ganze Saal nach vorn und riss Carl mit sich. Zwei Frauen standen auf den Lautsprechertürmen; sie drehten sich wie Spielfiguren. Plötzlich spürte Carl, wie sein T-Shirt hinten hochgerissen wurde. Zwei Arme fuhren um seine Taille, und weil er zu lange auf die schönen Frauen vor sich gestarrt hatte, war sein erster Gedanke: Hinter mir steht auch eine schöne Frau. Aber die Bewegung der abwärtstastenden Hände machte ihm rasch klar, dass er sich irrte. Er versuchte, sich im Gedränge umzudrehen. Ein dunkler Schatten tauchte hinter ihm hinab und befingerte ungeniert seine Hosenbeine. Mit beiden Fäusten schlug Carl nach dem Kopf, und langsam tauchte aus dem Dunkel ein schlanker, junger Mann wieder auf. Über sein strahlendes Gesicht liefen drei leuchtende, senkrechte Narben von der Stirn bis zum Kinn.

«Ich muss doch gucken, ob du keine Claymore in der Hose hast, Mann. Reg dich ab … aber offensichtlich hat dir immer noch keiner eine verkauft.»

Risa, genannt Khach-Khach. Er schlug Carl auf die Schultern, grinste noch breiter als zuvor und schien sich aufrichtig zu freuen. Im Gekreische um ihn herum verstand Carl nicht jedes Wort. Marshal Mellow war einen Schritt vom Mikrophon zurückgetreten und sah sich nach seinen Mitmusikern um.