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«Und warum?»

«Das ist eine dumme Frage. Nur Nasrani stellen solche dummen Fragen. Es geht nicht um das Warum. Es geht um höhere Dinge als das Warum. Warum lässt Gott das Böse zu? Warum segeln die Wolken am Himmel? Warum ist Amerika nicht Fußballweltmeister — warum, warum, warum?»

«Wenn du es nicht weißt», sagte Dr. Cockcroft, «dann wende ich jetzt.»

«Ich weiß es», sagte Carl. Er starrte auf die Gummifußmatte zwischen seinen Füßen. Die Stille im Wagen schien ihn weder zum Sprechen noch zum Schweigen aufzufordern, also redete er weiter. «Es ist wegen der Naturreligionen. In Vorderasien, wo das herkommt. Das Gebet der Rechtgläubigen darf auf keinen Fall mit einer Anbetung der Sonne verwechselt werden.»

Der Syrer drückte seiner Bauchrednerpuppe anerkennend den Nacken. «Genau das ist der Grund.» Und wichtigtuerisch setzte er hinzu: «Und noch hundert andere Gründe.»

Der Bassist stöhnte. Dr. Cockcroft fuhr langsam weiter. Kurz darauf sah Carl, wie der Syrer sich die Latschen von den Füßen streifte. Carls Kopf wurde zur Seite gezogen und zwischen dem Beifahrersitz und den Knien des Syrers tief hinuntergedrückt. Dann verschwand die Hand des Syrers, nicht ohne vorher durch erhöhten Druck klargemacht zu haben, dass jede weitere Bewegung unerwünscht war. Carl spürte ein kurzes Geruckel über sich, dann beugten sich neunzig Kilogramm schwitzend über ihm gen Mekka.

Unter den rhythmischen Bewegungen wanderte Carls Oberkörper langsam seitwärts. Sein Mund kam vor den Türgriff zu liegen. Er reckte das Kinn.

Nach drei oder vier vergeblichen Versuchen gelang es ihm, den Plastikhebel mit den Lippen zwischen seine Zähne zu ziehen. Er wartete auf den Moment, da das Gebet beendet war und der Syrer sich wieder aufrichtete. Das Auto nahm eine scharfe Linkskurve, und Carl klinkte die Tür auf und wand sich mit Unterstützung der Fliehkraft aus dem Auto. Zwei Fäuste versuchten vergeblich, ihn zu halten. Wild mit den Füßen nach hinten tretend robbte Carl vor einem blökenden Muli über die Straße, kam trotz der Handschellen taumelnd auf die Beine und rannte irgendwohin. In die falsche Richtung. Direkt vor ihm eine zweieinhalb Meter hohe Mauer, rechts und links Häuser. Hinter ihm schon die Verfolger: quietschende Bremsen, zwei Autotüren, mindestens zwei Paar Militärstiefel, die den Sand stampften. Sie waren schon zu nah. Er hatte keine Zeit, es sich noch anders zu überlegen. Vor der Mauer stand ein ausgebranntes Autowrack, die Felgen auf Ziegelsteinen aufgebockt. Die Hände hinter dem Rücken stürzte Carl darauf zu, nahm Kofferraum und Dach als Sprungbrett und klatschte mit der Hüfte gegen die Oberkante der Mauer. Für einen Moment hingen er und sein Leben in der Schwebe, dann neigte sich sein Oberkörper mühsam nach unten, und mit dem Kopf voran stürzte er in einen riesigen Dattelhaufen hinab.

Händler sprangen auf. Verschleierte Frauen — ein Marktplatz — in der Mitte ein riesiges, graues Zelt. Carl wälzte sich in den Früchten herum und sah hoch: Niemand kam ihm nachgesprungen. Blick nach rechts, Blick nach links: endlose Mauer. Er drehte sich auf den Rücken, führte die Handschellen um sein Gesäß herum bis in die Kniekehlen und schob die Kette unter den Füßen durch. Erneuter Blick nach oben: niemand. Um ihn herum Geschrei. Eine alte Frau zerrte an seinen Kleidern, hielt anklagend eine zermatschte Dattel in der Hand und keifte. Er stieß sie beiseite und sprang davon. Sofort verdoppelte sich das Geschrei. Händler und Marktweiber in wogenden Abayas kamen auf ihn zu, da bemerkte Carl nur wenige Schritte vor sich eine Tür in der Mauer — durch die lächelnd drei Männer traten. Dr. Cockcroft vorneweg.

Kopflos stürzte Carl zwischen zwei Gewürzständen hindurch und riss die bunten Säcke um. Er klatschte gegen zwei Schafshälften, sprang über einen Haufen unreifer Kürbisse und stolperte in eine Konstruktion aus Seilen und Stangen. Über ihm brach ein riesiges Zelt zusammen. Ohrenbetäubender Lärm. Eine mit grauem Leinen bedeckte Menschenmasse wogte um ihn herum. Die kreischenden Weiber waren noch zu hören, aber nicht mehr zu sehen, und nachdem Carl sich unter der Zeltplane wieder hervorgearbeitet hatte, war das Erste, worauf sein Blick fiel, eine gezückte Pistole.

Die Pistole befand sich in der Hand eines schnurrbärtigen Polizisten. Daneben, noch halb von Zeltplane bedeckt, ein zweiter Polizist mit den Resten einer zerbrochenen Wasserpfeife in der Hand, dahinter die Marktweiber, dahinter der Syrer, der Bassist und Dr. Cockcroft. Carl war so überwältigt von seinem Glück, dass er seinen Verfolgern einen schadenfrohen Blick zuwarf.

Der Syrer flüsterte dem Bassisten etwas ins Ohr, der Bassist flüsterte Dr. Cockcroft etwas ins Ohr, und Dr. Cockcroft zog sein Portemonnaie aus der Tasche und warf es den Polizisten hin.

Während die wackeren Ordnungshüter noch den Inhalt prüften, fühlte Carl sich schon an den Handschellen herumgerissen, durch die spuckende Menge gezerrt und mit einem Tritt zurück in den Jeep befördert.

FÜNFTES BUCH: DIE NACHT

54. DER BASTSTUHL

Ihre Toten begraben die Hirtenvölker wie die Hellenen, außer den Nasamonern; diese begraben sie im Sitzen und geben genau acht, wenn er das Leben aushaucht, dass sie ihn aufrichten und er nicht auf dem Rücken liegend stirbt. Ihre Häuser sind zusammengefügt aus Asphodilstängeln mit Binsen durchflochten, und können sie mit sich umhertragen. Das sind so die Sitten und Gebräuche dieser Völker.

Herodot

Ein Knebel im Mund, eine locker über den Kopf gestülpte Plastiktüte und erneut auf dem Rücken gefesselte Hände. Dazu die Füße mit dem Gürtel des Bassisten zusammengebunden. Carl kam es vor, als dauere die Fahrt ewig. Außer einigen dürren Kommandos, die Richtung betreffend, sprach nun niemand mehr ein Wort. Die Klänge der Stadt verhallten, bald war außer den Fahrgeräuschen des Jeeps nichts mehr zu hören. Steinchen prasselten gegen den Unterboden. Carl war sich sicher, dass sie durch die Wüste fuhren. Irgendwann eine scharfe Linkskurve, und es ging steil bergan. Serpentinen. Noch mehr Serpentinen. Das Auto bremste.

Kräftige Hände zerrten Carl hinaus in die Nacht. Er wurde auf den Boden gelegt und mit einem langen Strick um den Hals irgendwo festgebunden. An der Stoßstange, wie er unter dem Rand der Plastiktüte hindurch erkennen konnte. Er schrie in seinen Knebel und spürte, wie zwei, vier, sechs Hände an ihm herumtasteten, an seinen Kleidern zerrten, seine Taschen durchsuchten. Sie zogen ihm die Schuhe und die Socken aus. Sie öffneten seine Hose und griffen zwischen seine Beine. Er wand sich hin und her. Die Plastiktüte rutschte ihm vom Kopf. Sie zogen ihm die Schuhe wieder an. Dann hörte er die drei Männer davongehen. Der Wind wehte Wortfetzen herüber. Schließlich kamen sie zurück. Dr. Cockcroft leuchtete Carl mit einer Taschenlampe ins Gesicht, überprüfte die Kordel, die den Knebel fixierte, und stieg dann mit den anderen in den Jeep. Offenbar, um zu schlafen.

Carl schlief nicht. Der zusammengeknüllte Lappen in seinem Mund verwandelte sich über Nacht in einen riesigen, schleimigen Klumpen. Sein Kiefer war wie gelähmt. Die gefesselten Hände und Füße spürte er schon lange nicht mehr.

Er war froh, im ersten Licht des anbrechenden Tages den Bassisten aus dem Auto steigen zu sehen.

Dr. Cockcroft machte gymnastische Übungen. Kniebeugen, Holzhacken, Liegestütz. Der Bassist klagte über die Arbeitsbedingungen. Der Syrer presste seine Stirn auf den Boden und pries den Barmherzigen. Nachdem jeder der drei Männer einen Apfel gegessen hatte, banden sie Carl von der Stoßstange los, nahmen ihm die Fußfesseln ab und zogen ihn an einer langen Leine hinter sich her den Berg hinauf, über den Berg und hinunter ins nächste Tal — und auf die Goldmine zu. Auf fast demselben Weg, den er wenige Tage zuvor mit Helen gegangen war.