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Ich kenne Menschen in meinem Alter oder wenig älter, die Asyl in Belgien oder Schweden oder Paraguay oder einem der anderen Länder gesucht haben, wo Gesetze über die körperliche Unversehrtheit erlassen worden sind. Es gibt etwa zwanzig solche Länder, die Hälfte davon die progressivsten Länder der Welt, die andere Hälfte die reaktionärsten. Aber was hat die Flucht für einen Sinn? Ich will nicht im Exil leben. Ich bleibe hier und kämpfe.

Natürlich verlangen sie von einem Spendepflichtigen nicht, daß er sein Herz oder ein anderes lebenswichtiges Organ, etwa die Medulla oblongata, hergibt. Wir sind noch nicht in jenem Stadium politischer Erleuchtung, in dem der Staat sich für befugt hält, eine tödliche Verpflichtung gesetzlich einzuführen. Nieren und Lungenflügel, die paarweise vorhandenen, die entbehrlichen Organe, sind bis jetzt das Hauptziel. Wenn man die Geschichte der Zwangsaushebung im Laufe der Zeiten aber verfolgt, sieht man, daß sie immer in einer Kurve verläuft, die von vernünftiger Notwendigkeit zu absolutem Irrsinn führt. Reich ihnen eine Fingerspitze, und sie nehmen einen Arm. Reich ihnen zwei Zentimeter Darm, und sie nehmen dir die ganzen Gedärme. In weiteren fünfzig Jahren werden sie Herzen und Mägen und vielleicht sogar Gehirne verlangen, das wird man sehen; sobald sie die Technologie der Gehirntransplantation beherrschen, wird bei keinem mehr der Schädel sicher sein. Es wird wieder Menschenopfer geben. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Azteken liegt in der Methode: wir haben die Narkose, wir haben Antisepsis und Asepsis, wir verwenden Skalpelle statt Obsidianklingen, um die Herzen unserer Opfer herauszuschneiden.

Beruht mein Widerstand gegen die Zwangsverpflichtung auf einem eingewurzelten abstrakten Abscheu vor der Tyrannei in allen Formen, oder nur auf dem Wunsch, meinen Körper intakt zu erhalten? Kann es vielleicht beides sein? Brauche ich überhaupt eine idealistische Begründung? Besitze ich nicht ein unveräußerliches Recht, mein Leben mit meinen eigenen Nieren zu verbringen?

Das Gesetz wurde von einer Administration alter Männer durchgesetzt. Man darf sicher sein, daß alle Gesetze, die sich auf das Wohlergehen der Jungen beziehen, das Werk wankender, moribunder Greise ist, die an Angina pectoris, Arteriosklerose oder Vorfall des Trichterfortsatzes leiden. Das Problem war dieses: Es starben nicht genug junge Leute an Autounfällen, erfolgreichen Selbstmordversuchen, Fehlberechnungen bei Sprungturmübungen, elektrischen Schlägen und Footballverletzungen; deshalb gab es einen Mangel an verpflanzbaren Organen. Ein Versuch, die Todesstrafe wieder einzuführen, um eine laufende Versorgung mit staatlich kontrollierten Leichen sicherzustellen, scheiterte vor den Gerichten. Freiwillige Organspenderprogramme waren nicht sehr wirkungsvoll, weil die meisten Freiwilligen Kriminelle waren, die unterschrieben, um vorzeitig aus der Strafanstalt entlassen zu werden: ein Lungenflügel verminderte die Strafe um fünf Jahre, eine Niere um drei Jahre, und so weiter. Der Exodus von Sträflingen unter dieser Klausel war bei den bürgerlichen Wählern nicht sehr beliebt. Inzwischen bestand ein dringender und wachsender Bedarf an Organen; eine große Zahl bedeutender Senioren hätte wirklich sterben müssen, wenn nicht sehr schnell etwas geschah. Und so peitschte eine Koalition von Senatoren aus allen vier Parteien das Organspende-Verpflichtungsgesetz durch die zweite Kammer, obwohl ein paar zur Jugend hin orientierte Mitglieder mit Filibusterreden drohten. Im Repräsentantenhaus ging es viel leichter, weil im Haus niemand besonders auf den Text eines zur Abstimmung vorgelegten Gesetzes achtet, und man hatte verlauten lassen, wenn es durchgehe, könne jeder über fünfundsechzig, der auch nur über ein Mindestmaß an politischem Einfluß verfüge, damit rechnen, zwanzig oder dreißig Jahre länger zu leben, was für einen Abgeordneten die Aussicht auf zehn bis fünfzehn weitere Amtsperioden bedeutete. Natürlich ging man vor den Gerichten gegen das Gesetz an, aber was hatte das für einen Zweck? Das Durchschnittsalter der elf Richter am Obersten Bundesgericht beträgt siebenundachtzig Jahre. Sie sind menschlich und sterblich. Sie brauchen unsere Organe. Wenn sie das Gesetz jetzt für ungültig erklären, unterschreiben sie ihr eigenes Todesurteil.

Eineinhalb Jahre lang war ich Vorsitzender der Anti-Verpflichtungskampagne in unserer Universität. Wir waren die sechste oder siebte Ortsgruppe der Liga für Körperliche Unversehrtheit, die in diesem Land aufgebaut wurde, und echte Aktivisten. In der Hauptsache marschierten wir vor den Musterungsstellen auf, mit Transparenten, auf denen etwa stand: ›Nieren Power‹ oder: ›Eines Menschen Körper ist seine Burg‹ oder: ›Die Macht, Organe einzuziehen, ist die Macht, Leben zu zerstören.‹

Zu Gewalttätigkeiten, etwa Organtransplantationszentren zu sprengen oder Kühllaster zu überfallen, ließen wir uns jedoch nie hinreißen. Friedliche Agitation, das war unser Motto. Als ein paar von unseren Mitgliedern uns zu gewaltsameren Aktionen drängen wollten, hielt ich aus dem Stegreif eine zweistündige Rede, die zur Mäßigung aufrief. Natürlich wurde ich, als ich dann an die Reihe kam, sofort aufgerufen.

»Ich kann Ihre Abwehr der Einziehung gegenüber verstehen«, sagte mein College-Berater. »Es ist durchaus normal, daß man bei dem Gedanken, wichtige Organe seines Körpers abgeben zu müssen, empfindlich reagiert. Sie sollten aber die ebenso großen Vorteile auch nicht übersehen. Sobald Sie ein Organ gespendet haben, erhalten Sie die Einstufung in Klasse 6 A, Bevorzugter Empfänger, und Sie bleiben für alle Zeiten auf der 6 A-Liste. Es ist Ihnen doch klar, was das heißt. Wenn Sie jemals selbst eine Verpflanzung nötig haben sollten, steht sie Ihnen automatisch zu, selbst wenn Ihre anderen persönlichen und beruflichen Qualifikationen Sie nicht auf die optimale Stufe heben. Angenommen, Ihre beruflichen Pläne lassen sich nicht verwirklichen, und Sie werden, sagen wir, Arbeiter. Normalerweise hätten Sie nicht einmal Anspruch auf einen ersten Blick, wenn sich ein Herzleiden einstellt, aber Ihr Status als Bevorzugter Empfänger würde Sie retten. Sie hätten einen neuen Anspruch auf Leben, mein Junge.«

Ich verwies ihn auf die innere Unlogik dieser Behauptung. Sie besteht darin: Mit der Zunahme der Verpflichteten werden sie schließlich eine Mehrheit oder gar die Gesamtheit der Bevölkerung umfassen, und schließlich wird jeder Bevorzugter Empfänger in Stufe 6 A sein, weil er Organe gespendet hat, und der Begriff ›Bevorzugter Empfänger‹ wird keinen Sinn mehr haben. Ein Mangel an verpflanzbaren Organen müßte sich ergeben, wenn jeder Spender seinen Anspruch auf ein Transplantat erhebt, sobald ihn seine Gesundheit im Stich läßt, und mit der Zeit würde man die Bevorzugten Empfänger nach persönlicher und beruflicher Leistung einordnen müssen, um innerhalb der Stufe 6 A zu einer Rangordnung zu kommen, und wir wären genau wieder dort, wo wir jetzt sind.

Ich ging also pünktlich zum Transplantations-Amt, um mich untersuchen zu lassen. Ein paar meiner Freunde meinten, ich beginge einen taktischen Fehler, weil ich mich überhaupt meldete; wenn du dich weigerst, sagten sie, dann weigere dich in jedem Punkt. Laß dich zur Untersuchung hinschleppen. Im rein idealistischen — und ideologischen — Sinn haben sie wohl recht. Es besteht aber noch keine Notwendigkeit, daß ich Theater mache. Ich warte, bis sie tatsächlich sagen: ›Wir brauchen Ihre Niere, junger Mann.‹ Dann kann ich Widerstand leisten, wenn ich mich endgültig dafür entscheide. Weshalb schwanke ich? Bin ich von der Ungerechtigkeit des ganzen Organspende-Systems nicht ganz überzeugt? Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich schwanke. Sich zur Untersuchung einfinden, heißt noch lange nicht, sich an das System verkaufen. Jedenfalls ging ich hin. Sie klopften hierhin und röntgten das und starrten dort hinein. Bitte gähnen. Bitte bücken. Bitte husten. Bitte, den linken Arm ausstrecken. Sie führten mich vor eine Batterie von Diagnose-Maschinen, und ich stand da und hoffte auf das rote Lämpchen — Tilt! verschwinden Sie von hier! — aber ich war, wie erwartet, in perfekter körperlicher Verfassung und geeignet für den Aufruf. Ich traf mich mit Kate, wir gingen im Park spazieren, hielten Händchen und betrachteten den prächtigen Sonnenuntergang, während wir besprachen, was ich tun soll, wenn und falls der Aufruf kommt. Falls? Wunschdenken, mein Junge!