Выбрать главу

Kananga ist ein Mann der Tat, sagte Eberly sich. Er ist kein tiefgründiger Denker, was aber auch nur von Vorteil ist. Er gibt ein nützliches Werkzeug ab. Morgenthau ist da schon anders. Sie sitzt nur stumm wie eine Sphinx da und beobachtet alles. Was wohl in ihrem Kopf vorgeht? Was wird sie von den hiesigen Vorgängen nach Amsterdam berichten? Vermutlich alles.

»Wenn man den Leuten all diese persönlichen Freiheiten zugesteht«, sagte — beziehungsweise zischte — Vyborg, »wird das Resultat Chaos sein. Anarchie.«

»Die meisten Bewohner sind doch in dieses Habitat gegangen, um repressiven Regimes zu entfliehen. Wenn ihre persönliche Freiheit nicht garantiert wird, dann werden sie die ganze Verfassung ablehnen.« Jaansen lehnte sich auf dem Sofa zurück und lächelte, als ob er die Diskussion schon für sich entschieden hätte.

»Persönliche Freiheit«, spie Vyborg förmlich aus. »Das ist genau die Art von Freizügigkeit, die fast zum Zusammenbruch der Zivilisation geführt hätte. Wenn da nicht die Neue Moralität gewesen wäre…«

»Und die Heiligen Jünger«, warf Morgenthau ein. »Und das Schwert des Islam«, fügte sie mit einem Blick auf Kananga hinzu.

Jaansen schaute sie und Vyborg mit einem Stirnrunzeln an. »Was auch immer Sie davon halten, diese Leute werden keine Verfassung akzeptieren, die nicht ihre historischen Rechte garantiert. Sie sind nur deswegen hier, weil sie der Restriktionen auf der Erde überdrüssig waren.«

Vyborg war da anderer Ansicht. Er führte die Debatte fort.

Der am Ende des Kaffeetischs sitzende Eberly sagte sich, dass Vyborg, der auf dem besten Lehnstuhl des Raums saß und die storchenartigen Beine unter sich angezogen hatte, wie eine zusammengerollte Schlange aussah: dünn, klein, dunkelhäutig und mit bedrohlich glitzernden Augen. Jaansen war das genaue Gegenteiclass="underline" ruhig, hellhäutig und so stoisch wie ein Gletscher. Und er hatte noch immer diesen verdammten Palmtop in der Hand und spielte damit herum wie mit einem Voodoo-Requisit.

»In einer geschlossenen Ökologie wie dieser dürfen wir keine Wirrköpfe und Unruhestifter dulden«, schaltete Kananga sich ein. »Wir sollten sie ohne Raumanzug aus der Luftschleuse stoßen!«

Morgenthau lachte. »Mein lieber Oberst, wie können wir uns auf Luftschleusen-Justiz verlegen, wenn das Gesetz jedem Bürger einen ordentlichen Prozess für jedes Vergehen garantiert, das er vielleicht begeht?«

»Meine Rede!«, rief Vyborg und schaute Jaansen ins Gesicht. »Wir haben hier keinen Platz für eine Kuscheljustiz.«

Morgenthau schürzte die Lippen und sagte: »Es gäbe vielleicht noch eine andere Möglichkeit.«

»Und welche?«

»Ich habe gehört, dass Wissenschaftler auf der Erde damit experimentieren, Menschen elektronische Sonden in den Schädel einzupflanzen. Sie verbinden die Sonden mit dem Gehirn…«

»Bioelektronik«, sagte Jaansen.

»Ja«, pflichtete Morgenthau ihm bei. »Indem diese Sonden mit verschiedenen Gehirn-Zentren verbunden werden, vermag man das Verhalten einer Person zu kontrollieren und zum Beispiel kriminellen Verhaltensweisen vorzubeugen.«

»Na und?«, fragte Vyborg missmutig.

»Vielleicht können wir solche Sonden verwenden, um auch hier das Verhalten zu kontrollieren«, sagte Morgenthau.

»Den Leuten Sonden ins Gehirn einpflanzen, um ihr Verhalten zu kontrollieren?« Jaansen schauderte.

»Das könnte funktionieren«, sagte Morgenthau.

»Sie würden der Operation aber zustimmen müssen«, gab Vyborg zu bedenken.

»Nicht, wenn sie einer Straftat überführt wären«, wandte Kananga ein.

»Auf jeden Fall wäre es eine Möglichkeit, die Leute zu kontrollieren«, sagte Morgenthau.

»Die Bevölkerung würde dem nie zustimmen«, erwiderte Jaansen und schüttelte den Kopf. »Die Leute sind schließlich nicht blöd. Sie würden der Regierung nie eine solche Macht über sich einräumen.«

»Wir müssten es ihnen doch nicht sagen«, wandte Kananga ein. »Sondern es einfach tun.«

Es entspann sich eine Diskussion, die zunehmend hitzig wurde. Eberly schaute nur zu, hörte zu und süffelte Tee, während sie sich beinahe in die Haare gerieten.

»Dürfte ich wohl einen Vorschlag machen?«, fragte er dann. Er sprach nur leise, aber aller Blicke richteten sich sofort auf ihn.

»Selbst in so genannten Demokratien auf der Erde haben die desolaten Zustände, die durch den Klimakollaps verursacht wurden, zu autoritären Regierungen geführt. Selbst in den Vereinigten Staaten herrscht die Neue Moralität mit eiserner Faust über die meisten Großstädte.«

»Genau aus diesem Grund haben die meisten dieser Leute sich auch diesem Habitat angeschlossen«, legte Jaansen dar. »Weil sie in Freiheit leben wollen.«

»Mit der Illusion von Freiheit«, murmelte Kananga.

»Säkularisten«, grummelte Morgenthau. »Renitente und Ungläubige. Agnostiker und ausgesprochene Atheisten.«

»Im Grunde stimme ich mit Ihnen überein«, sagte Jaansen und ließ den Palmtop zwischen den Händen hin- und herwandern. »Ich bin auch ein Gläubiger. Ich erkenne durchaus die Notwendigkeit einer straffen Kontrolle der Menschen. Aber diese Säkularisten sind keine Dummköpfe. Viele von ihnen sind Wissenschaftler. Und noch mehr sind Ingenieure und Techniker. Ich will damit sagen, wenn wir eine Verfassung vorlegen, die die beanspruchten Freiheitsrechte nicht garantiert, werden sie sie ablehnen.«

»Aber nicht, wenn wir die Stimmen auszählen«, sagte Morgenthau mit einem koketten Zwinkern.

»Lassen Sie die Scherze«, entgegnete Jaansen.

»Das ist alles schon vorgekommen«, sagte sie kichernd.

Eberly stieß einen langen Seufzer aus. Wieder richteten sich alle Blicke auf ihn.

»Niemand von Ihnen hat ein Verständnis für historische Zusammenhänge«, sagte er. »Sonst wüssten Sie nämlich, dass dieses Problem früher schon aufgetreten ist und auch pragmatisch gelöst wurde.«

»Gelöst?«, fragte Vyborg. »Wie denn?«

Eberly lächelte im Bewusstsein des größeren Wissens und sagte: »Vor über hundert Jahren war Russland Teil eines staatlichen Gebildes, das als die Union sozialistischer Sowjetrepubliken bezeichnet wurde.«

»Das weiß ich auch«, sagte Vyborg säuerlich.

»Sowjetrussland hatte eine Verfassung, die die liberalste auf der ganzen Welt war. Sie garantierte jedem Bürger Freiheit und Gleichheit. Und doch war die Regierung eine der repressivsten weltweit.«

»Wie haben sie das denn hingekriegt?«, fragte Jaan-sen interessiert.

»Das war ganz einfach«, erwiderte Eberly. »Inmitten all dieser hehren Verfassungsgrundsätze von wegen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen gab es nämlich eine klitzekleine Klausel, die besagte, dass die Verfassung im Falle eines Notstands zeitweilig außer Kraft gesetzt werden könne.«

»Ein Notstand«, sinnierte Kananga.

»Zeitweilig«, sagte Vyborg.

Eberly nickte. »Es hat auch ganz gut funktioniert. Die Sowjetunion befand sich in einem dauernden Belagerungszustand, und die Regierung herrschte durch Schrecken und Desinformation. Es funktionierte beinahe für ein dreiviertel Jahrhundert, bis die Sowjetregierung unter dem Druck der westlichen Welt, insbesondere der alten Vereinigten Staaten zusammenbrach.«

»Nur dass wir keinen äußeren Feind haben, auf den wir uns berufen könnten«, sagte Vyborg.

Eberly breitete die Hände aus. »Dann geben wir den Leuten eben die beste, gütigste und freiheitlichste Verfassung, die sie je gesehen haben. Aber wir werden dafür sorgen, dass diese Notstands-Klausel eingebaut wird.«

Morgenthau lachte herzhaft. »Und wenn die Verfassung dann in Kraft ist, müssen wir nur noch einen Notstand ausfindig machen.«

»Oder einen konstruieren«, ergänzte Vyborg.

Nun lächelte sogar Jaansen. »Und wenn jemand protestiert…«