»Stecken wir ihm eine neuronale Sonde ins Gehirn«, sagte Morgenthau, »und verwandeln ihn in einen Muster-Bürger.«
»Ein Modell-Zombie«, murmelte Jaansen.
»Oder noch besser«, sagte Kananga grinsend, »wir schmeißen ihn aus der Luftschleuse.«
Drei Tage vor dem Jupiter-Swingby
Eberly beauftragte Jaansen, sein Apartment mindestens einmal die Woche auf Wanzen zu überprüfen.
»Meinen Sie wirklich, dass Wilmot Ihnen nachspioniert?«, fragte der große, blasse Norweger, während er mit einem elektronischen Detektor in der Hand durchs Schlafzimmer ging.
»Ich würde das jedenfalls tun, wenn ich an seiner Stelle wäre«, sagte Eberly.
»Haben Sie sein Büro denn verwanzt?«, fragte Jaansen mit einem Lächeln.
»Natürlich.«
»In drei Tagen fliegen wir am Jupiter vorbei«, sagte Jaansen. »Das ist ein Meilenstein.«
Eberly pflichtete ihm mit einem knappen Kopfnicken bei. »Ich interessiere mich aber mehr dafür, was innerhalb als außerhalb des Habitats geschieht.«
»Wir werden neuen Brennstoff bunkern«, sagte Jaansen, ganz der Ingenieur. »Ohne ihn werden wir den Saturn nicht erreichen.«
»Ich habe andere Dinge im Kopf. Wichtigere Dinge.«
»Zum Beispiel?«
»Die bevorstehenden Wahlen.«
»Sie sind sauber«, verkündete Jaansen und schaltete den Detektor aus. »Keine Kameras, keine Mikrofone und kein Spannungsabfall bis hinunter in den Mikrovolt-Bereich. Hier ist nichts, was nicht hierher gehört.«
»Gut.« Eberly begleitete ihn ins Wohnzimmer zurück und bedeutete ihm, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
»Früher oder später müssen wir die Leute dazu bringen, über eine neue Verfassung und neue Anführer abzustimmen«, sagte Eberly und setzte sich in den Sessel.
Jaansen nickte, steckte den Detektor in die Tasche und zog den unvermeidlichen Palmtop aus einer anderen.
»Ich mache mir Gedanken über die Wahlen«, sagte Eberly.
»Bis dahin ist es noch eine lange Zeit.«
»Aber nicht einmal mehr ein Jahr. Wir müssen uns schon darauf vorbereiten.«
Jaansen nickte und spielte mit dem Palmtop herum.
»Die Wissenschaftler werden für jemanden aus ihren Reihen stimmen, wahrscheinlich für Urbain.«
Wieder ein Kopfnicken von Jaansen.
»Sie stellen einen großen Stimmenblock dar.«
»Aber keine Mehrheit.«
»An sich nicht«, sagte Eberly. »Aber angenommen, die Ingenieure und Techniker stimmen genauso ab wie sie.«
Erkenntnis dämmerte in Jaansens Gesicht. »Das wäre dann freilich eine Mehrheit. Sogar eine große Mehrheit.«
»Deshalb müssen wir irgendwie einen Keil zwischen die Ingenieure und Techniker auf der einen Seite und die Wissenschaftler auf der anderen Seite treiben«, sagte Eberly.
»Und wie sollen wir das anstellen?«
Eberly lächelte. »Ich werde Ihnen erklären, wie ich mir das vorstelle.«
Edouard Urbain versuchte das Zittern zu unterdrücken, das ihn beim Blick aus dem Beobachtungsfenster befiel. Der riesige Planet Jupiter, der vor ein paar Wochen noch nicht mehr als ein heller Stern gewesen war, zeichnete sich nun auch für das bloße Auge als deutlich sichtbare Scheibe ab. Sie war an den Polen deutlich abgeplattet und wurde von Wolkenbändern in gedeckten Farben umspannt, die sich um den Umfang dieser großen Welt schwangen. Vier kleine Sterne flankierten die Scheibe: die Monde, die Galilei mit seinem ersten Teleskop entdeckt hatte.
Urbain wusste, dass die Forschungsstation Thomas Gold sich in einem engen Orbit dicht oberhalb dieser bunten Wolken bewegte. Ich könnte auch dort sein, sagte er sich zum tausendsten Mal. Ich selbst hätte die Teams leiten können, die die Lebensformen auf Europa und Jupiter studieren. Stattdessen bin ich hier in dieser glorifizierten Arche eingesperrt, zusammen mit Renegaten und Verrückten wie diesem Gaeta.
Er wusste, dass es Einbildung war, doch Jupiter schien sich vor seinen Augen aufzublähen. Nein, so nah sind wir nun auch wieder noch nicht, sagte Urbain sich. In drei Tagen erst werden wir den Planeten in seiner ganzen Pracht vor uns haben.
Der Stab der Wissenschaftler und ihre Ausrüstung im Habitat Goddard waren viel kleiner, als Urbain gehofft hatte. Das Universitäts-Konsortium war nämlich nicht bereit, seine besten Leute auf eine jahrelange Reise zum Saturn zu entsenden. Sollten sie etwa Däumchen drehen, während das Habitat in Schleichfahrt zu diesem fernen Planeten unterwegs war? Kommt nicht in Frage. Das Gesicht des Chefwissenschaftlers des Konsortiums erschien in voller, schmerzlicher Schärfe vor Urbains geistigem Auge:
»Wir können doch nicht unsere besten Leute für ein paar Jahre auf Eis legen, Edouard. Sie fliegen mit einem Rumpf-Team zum Saturn. Wenn Sie in einen Orbit um den Planeten gegangen sind, werden wir unsere Top-Forscher in einem Schiff mit Ionentriebwerk zu Ihnen hochschicken, so dass sie in zwei Monaten bei Ihnen sind.«
Diese Schmach brannte noch immer in Urbains Herzen. Ich gehöre also nicht zu ihren besten Leuten. Ich habe mein Leben lang auf dem Mars und auf dem Mond gearbeitet, drei Jahre im Orbit um dieses Höllenloch von Venus verbracht, habe mein Leben der Planetenwissenschaft gewidmet — und dann traut man mir nur zu, Kindermädchen für ein Rumpf-Team aus Wissenschaftlern zu spielen, die auch nur zweite Garnitur sind.
Das schmerzte. Es schmerzte heftig. Zumal seine Frau sich geweigert hatte, mit ihm zu kommen; stattdessen hatte sie die Scheidung verlangt. Sie hatte ihm seit Jahren gesagt, dass es töricht von ihm sei, die politischen Aspekte seiner Karriere zu ignorieren.
»Such dir Freunde«, hatte Jearvne-Marie ihm immer wieder gesagt. »Stell dich gut mit denjenigen, die etwas für dich tun können.«
Doch dazu war er nicht in der Lage. Das war einfach nicht sein Stil. Er hatte gute und solide Arbeit geleistet; nicht unbedingt auf dem Niveau, auf dem man Nobelpreise gewinnt, aber es waren trotzdem wichtige Beiträge gewesen. Und nun dies. Das Ende der Straße. Zum Saturn verbannt. Ich werde im Rentenalter sein, wenn ich endlich aus diesem Habitat herauskomme.
Ich hätte mehr auf Jean-Marie hören sollen. Ich hätte ihren Rat befolgen sollen. Ich hätte auch dem Berater der Neuen Moralität größere Aufmerksamkeit schenken sollen. Sie ziehen nämlich die Strippen hinter den Kulissen. Mittelmäßige Gläubige werden befördert, während kompetente Forscher wie ich auf keinen grünen Zweig kommen.
Ein vergeudetes Leben, sagte er sich.
Und doch flammte beim Blick auf Jupiter, der wie eine Leuchtboje in den dunklen Tiefen des Alls hing, wieder die alte Neugier in ihm auf. Es gibt dort draußen ein ganzes Universum, das der Erforschung harrt! Welten über Welten! Ich werde zwar nicht in der Lage sein, Jupiter und seine Monde zu studieren, aber ich werde vor allen anderen den Saturn erreichen. Ich werde die ersten Echtzeit-Sonden auf Titans Oberfläche hinunterschicken.
Er dachte an das Kettenfahrzeug, das seine Leute gerade bauten. Es wird auf der Oberfläche von Titan kreuzen und in ein paar Wochen mehr Daten über diese Welt sammeln, als sämtliche Wissenschaftler auf der Erde während ihres ganzen Lebens anzuhäufen vermocht hatten. Bevor die jungen und dynamischen Nachwuchskräfte die Ionentriebwerks-Schiffe auch nur besteigen, werde ich schon Daten von Titan senden. Und von der Wolkenschicht des Saturn. Und von den Eisringen.
Vielleicht wird mein Leben doch nicht vergeudet sein, sagte Edouard Urbain sich. Vielleicht werde ich diesmal einen Volltreffer landen. Vielleicht werde ich doch noch einen Nobelpreis einheimsen.
Vielleicht, sagte er sich, wird sogar Jeanne-Marie zu mir zurückkehren.
In der Werkstatt, wo er und sein Team arbeiteten, führte Manuel Gaeta Kris Cardenas um seinen EVA-Anzug herum. Von Helmholtz und seine vier Techniker standen an den Bänken, die zwei Wände des Raums säumten; sie beobachteten, wie ihr Chef und die Nanotech-Expertin langsam um den schweren und klobigen Anzug herumgingen und ihn inspizierten, als handele es sich um eine neue Garderobe für Frankensteins Monster.