Charles sagte nichts. Elinor hatte wahrscheinlich Recht. Das hatte sie meistens. So auch in diesem Falclass="underline" Es erfolgte ein Anruf von jemandem namens von Helmholtz, der sich als Gaetas Cheftechniker identifizierte und um die Erlaubnis bat, das Video von der Rettung an die Erde und nach Selene zu übertragen. Charles leitete die Anfrage auf Vyborgs Privatleitung um. In weniger als zehn Minuten rief Vyborg zurück und erteilte die Erlaubnis.
»Du schuldest mir einen Fünfer«, sagte Elinor und grinste kess.
»Ich wette nicht«, sagte er.
»Das macht keinen Unterschied«, sagte sie. »Das ist ein moralischer Sieg für mich.«
Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Hast du dich schon entschieden, wie wir unser Dorf nennen sollen?«
»Jedenfalls nicht Dorf C«, sagte sie.
»Ich finde, wir sollten es nach einer bedeutenden literarischen Figur benennen. Vielleicht Cervantes. Oder Shakespeare.«
»Wusstest du schon, dass beide im selben Jahr gestorben sind?«
»Nein.«
»Doch. 1616. Du kannst es nachschauen.«
»Ich glaube es trotzdem nicht.«
»Willst du fünf Piepen wetten?«
»Darauf wette ich«, sagt Charles und streckte die Hand aus.
Sie gaben sich die Hand drauf, und Elinor sagte sich: Wir sind nun schon über zehn Jahre verheiratet, und er hat immer noch nicht geschnallt, dass ich nur sichere Wetten eingehe. Sie lächelte ihren Mann voller Sympathie an. Das liebe ich so an ihm — unter anderem.
Holly und Gaeta gingen langsam den sanft ansteigenden Pfad entlang, der zu ihrem Apartmentgebäude führte. Es war schon weit nach Mitternacht; das Habitat befand sich im Nacht-Modus. Die Sonnenfenster waren geschlossen, und es war dunkel bis auf die Laternen, die auf schlanken Pfählen den Pfad säumten, und den erleuchteten Fenstern in ein paar Wohnquartieren.
»Schau mal zu den Sternen hoch«, sagte Gaeta und blieb mitten auf dem Pfad stehen.
»Das sind keine Sterne«, sagte Holly, »sondern Lichter vom Hochland.«
»Diese dort drüben sehen wie Blütenblätter aus«, sagte er und wies nach oben. »Ich glaube, ich werde sie das ›Sternbild der Blumen‹ nennen.«
Sie kicherte. »Das sind doch nur Lichter, Manny. Schau, diese schlangenförmigen Linien dort oben…« — sie zeigte auf die entsprechende Stelle — »sind die Radwege zwischen der Lebensmittel-Fabrik und Dorf C, und das Dorf selbst…«
»Sieht aus wie ein riesiger Tintenfisch, nicht wahr? Schau, das ist der Körper, und dort sind die langen Tentakel.«
Sie stellte sich in der Dunkelheit so dicht neben ihn, dass sie seine Körperwärme spürte.
»Und was ist das wohl für ein Sternbild?«, fragte sie und deutete auf die parallelen Lichterketten, die einen Obstgarten markierten.
»Schau'n wir mal«, murmelte er. »Wie wär's mit dem Sternbild Tic-Tac-Toe?«
Sie mussten beide lachen, und plötzlich lag sie in seinen Armen, und er küsste sie. Meine Güte, sagte Holly sich, worauf lasse ich mich da nur ein?
»Er hat den Mann hierher gebracht?«, fragte Eberly.
Eberly stand am Spülbecken und hatte eine Schüssel voll Frühstücksflocken in der Hand. Kananga war unangemeldet hereingeplatzt; er hatte nur einmal laut an die Tür des Apartments geklopft und war dann eingetreten, ohne ein ›Herein‹ abzuwarten. Eberly war sicher, dass er die Türen abgeschlossen hatte, bevor er sich gestern zur Nachtruhe begeben hatte. Wie hatte Kananga sie geöffnet? Eberly erinnerte sich, dass der Mann auf der Erde Polizeibeamter gewesen war. Er muss eine gewisse Routine darin entwickelt haben, verschlossene Türen zu überwinden und in die Wohnungen anderer Leute einzudringen.
Kananga nickte nur. »Er liegt im Krankenhaus. Die Beinverletzungen waren anscheinend nicht besonders schlimm. Der Laser hatte das Fleisch beim Beschuss verschmort, sodass es kaum blutete. Das eigentliche Problem war der Schock.«
»Wie lang muss er im Hospital bleiben?«, fragte Eberly und ließ abwesend Haferflocken in eine Plastikschüssel rieseln. »Wir sollten ihn so bald wie möglich zur Jupiterstation zurückschicken.«
»Dafür ist es schon zu spät«, sagte Kananga. Er stand auf der anderen Seite der Küchenzunge, die als Barriere zwischen der Küche und dem Wohnzimmer diente. »Wir haben uns schon zu weit vom Jupiter entfernt, als dass sie noch ein Raumschiff schicken könnten, um ihn abzuholen. Sie brauchten ein Spezialschiff mit Ionentriebwerk, aber die Belegschaft der Station ist nicht bereit, nur wegen ihm eins anzufordern.«
»Das bedeutet, wir haben diesen Mann nun am Hals?«
Kananga nickte. »Das medizinische Personal hält ihn unter Quarantäne, bis sie mit Sicherheit wissen, dass er keine Schadstoffe im Blut hat.«
»Aber er kann nicht hier bleiben! Das Habitat ist doch kein Obdachlosenasyl!«
»Wünschen Sie, dass ich ihn aus einer Luftschleuse werfe?«
Eberly starrte den Oberst an. Die Frage sollte offenbar ein Scherz sein, aber in seinem dunklen ernsten Gesicht war nicht die Spur eines Lächelns.
»Lassen Sie diese Scherze«, sagte Eberly.
»Dann wird er also hier bleiben. Allerdings weiß er es noch nicht. Jemand wird ihm die Nachricht überbringen müssen. Sie wird ihm wahrscheinlich nicht gefallen.«
Eberly stellte die Schüssel mit dem Frühstück auf die Arbeitsplatte und ging ins Wohnzimmer.
»Ich werde sie von Holly überbringen lassen. Oder von Morgenthau; sie ist schließlich die amtierende Leiterin der Abteilung Human Resources. Wir werden ihn irgendwie in die Population des Habitats integrieren müssen.«
»Das wird ihm nicht gefallen«, wiederholte Kananga. »Er hätte in ein paar Wochen zur Erde zurückkehren sollen.«
»Er wird bleiben müssen, es sei denn, er kann es sich leisten, sich von einem Ionentriebwerks-Schiff abholen zu lassen.«
»Er wird erwarten, dass wir das erledigen.«
»Das ist in unserem Budget nicht vorgesehen«, sagte Eberly mit einem Kopfschütteln. »Wilmot würde das Geld nicht bewilligen. Er wäre dazu auch gar nicht imstande. Für so etwas ist einfach kein Geld da.«
»Vielleicht könnte ein Nachrichtensender als Sponsor auftreten«, regte Kananga an. »Die Rettung war immerhin die Sensation in den Morgennachrichten.«
»Vielleicht. Ich werde Vyborg bitten, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.« Eberly hielt inne und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Andrerseits könnten wir die ganze Sache vielleicht zu unserem Vorteil nutzen.«
»Und wie?«
»Ich weiß es noch nicht. Aber es muss doch einen Weg geben, davon zu profitieren. Wir haben schließlich einen echten Helden in unserer Mitte, diesen Stuntman Gaeta.«
»Er ist ein Außenseiter. Er wird zur Erde zurückkehren, nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hat.«
»Zur Erde zurückkehren? jemand schickt ein Schiff für ihn?« Kananga wirkte erstaunt ob dieser Vorstellung. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht kann er den Flüchtling mit zurücknehmen.«
»Vielleicht. Doch in der Zwischenzeit sollten wir nach einer Möglichkeit suchen, ihn zu benutzen. Am besten alle beide.«
»Und wie?«, fragte Kananga erneut.
»Helden sind immer wertvoll«, erwiderte Eberly, »wenn man sie zu manipulieren vermag. Ich muss nach einem Weg suchen, Gaeta für unsere Zwecke einzuspannen.«
Kananga zuckte die Achseln. »Einen Trost haben wir immerhin.«
Eberly schaute ihn durchdringend an. »Wie meinen Sie das?«
»Es wird nicht wieder vorkommen. Wir werden keine Flüchtlinge mehr an Bord nehmen. Die Jupiterstation war der letzte Außenposten der Menschen. So weit draußen gibt es niemanden mehr außer uns.«
Sprach's, drehte sich um und verließ das Apartment. Eberly wurde sich bewusst, dass er Recht hatte. Sie hatten nun schon eine größere Entfernung von der Erde zurückgelegt als je ein Mensch zuvor. Sie hatten die Grenzen des erforschten Raums hinter sich gelassen und stießen ins Unbekannte vor.