Tavalera war mit einem schlecht sitzenden grauen Overall bekleidet. Sein Pferdegesicht hatte einen verdrießlichen, beinahe depressiven Ausdruck. Er stand nicht vom Stuhl auf, als Holly ihm gegenübertrat und sich vorstellte. Sie trug eine maßgeschneiderte rosefarbene Bluse über einer grauen Hose — Bürokleidung.
»Ich bin von der Abteilung Human Resources«, sagte Holly, nachdem sie sich einen Stuhl herangezogen und neben Tavalera gesetzt hatte. Er traf keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie rang sich ein Lächeln für ihn ab und eröffnete ihm: »Ich bin hier, um mir Ihre komplette Lebensgeschichte anzuhören.«
Er erwiderte das Lächeln nicht. »Ist das wahr? Soll ich für ein verdammtes Jahr oder noch länger hier festsitzen?«
»Ja, sofern niemand ein Schiff schickt, um Sie abzuholen, werden Sie uns leider auf dem ganzen Weg bis zum Saturn begleiten müssen.«
»Wer, zum Teufel, sollte denn ein Schiff schicken, um mich abzuholen?«, murmelte er. »Ich bin nur ein popeliger Ingenieur, ein verdammter Arbeitssklave, mehr nicht.«
Holly holte Luft. »Mr. Tavalera, ich bin zwar auch keine Heilige, aber ich würde es begrüßen, wenn Sie sich einer etwas gewählteren Ausdrucksweise befleißigten.«
Er schaute sie von der Seite an. »Eine Gläubige?«
»Eigentlich nicht. Ich bin keine Kirchgängerin.«
»Die verd… äh, ich meine, es war die Neue Moralität, die mich überhaupt erst hierher geschickt hat. Ich musste einen zweijährigen Zivildienst leisten. Hatte keine andere Wahl.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich? Ich hatte nur noch ein paar Wochen, und dann hätte man mich nach Hause gebracht. Und nun fliege ich zum verd… zum Saturn, um Himmels willen!«
Holly wies auf den Panoramablick übers Dorf und die liebliche grüne Landschaft des Habitats. »Es gibt schlimmere Orte, wissen Sie. Vielleicht wird es Ihnen hier sogar gefallen.«
»Ich habe auf der Erde Familie. Freunde. Ich wollte mein Leben wieder auf die Reihe bringen…« Seine Stimme erstarb. Holly sah, dass er sich beherrschen musste, um nicht auszuflippen.
»Sie können ihnen doch Mitteilungen schicken. Und wir könnten hier eine sinnvolle Arbeit für Sie suchen. Sie werden das Leben hier genießen, wollen wir wetten?«
Tavalera schaute sie finster an.
»Ich weiß, dass es Ihnen wie eine schreckliche Katastrophe vorkommen muss«, sagte Holly so sachlich wie nur möglich, »aber Sie sind nun einmal hier und sollten versuchen, das Beste daraus zu machen.«
»Sie haben leicht reden«, sagte Tavalera.
»Wir werden Ihnen auf jede nur erdenkliche Art helfen, solange Sie hier sind.«
»Wir?«
»Die Leute hier im Habitat. Die Human-Resources-Abteilung.«
»Schließt das auch Sie mit ein?«
»Ja, ich gehöre auch zur Abteilung Human Resources«, erwiderte Holly mit einem Nicken.
Tavaleras Miene schien sich etwas aufzuhellen. Aber nur ein bisschen.
Eberly schritt gemächlich den Pfad entlang, der am Seeufer verlief. Morgenthau war an seiner Seite.
»Es ist gut, einmal im Freien zu sein«, sagte er. »Ohne neugierige Blicke und gespitzte Ohren.«
»Man spioniert Ihnen nach?«, fragte Morgenthau. Sie wusste, dass es ein Leichtes war, moleküldünne Mikrofone an Wände und Decken zu sprühen. Und tropfengroße Kameras konnte man fast überall installieren.
»Wahrscheinlich nicht. Wilmot vermag sich in seiner Naivität nicht einmal vorzustellen, was wir tun. Aber es ist das Beste, sich gegen alle Eventualitäten zu wappnen, meinen Sie nicht auch?«
»Wir haben ein Problem mit Vyborg«, sagte sie, als ob sie eine Ankündigung machte.
»Er ist ungeduldig, ich weiß.«
»Er ist mehr als nur ungeduldig«, sagte Morgenthau. »Er plant eine Gewalttat.«
»Gewalttat?« Eberly verspürte ein flaues Gefühl im Magen. »Wie meinen Sie das?«
»Er ist nicht gewillt, darauf zu warten, dass Sie die beiden Männer über ihm in der Kommunikations-Abteilung absetzen«, sagte Morgenthau gelassen. »Er plant, gegen Sie vorzugehen.«
»Dieser krumme Hund! Er wird alles vermasseln«, knurrte Eberly und kämpfte gegen die aufsteigende Furcht an. Wie vermag ich ihn aufzuhalten?, fragte er sich. Wie vermag ich ihn daran zu hindern, ohne schwach und unentschlossen zu wirken? Ich will ihre Loyalität, aber wenn ich versuche, sie zu bremsen und aufzuhalten, werden sie ohne mich weitermachen. Und was wird dann aus mir? Wenn wir den Saturn erreichen, werden sie mich zur Erde zurückschicken. Wieder ins Gefängnis!
»Ich sage Ihnen, er wird Gewalt anwenden«, sagte Morgenthau dringlich.
Eberly musste sich mit einer Willensanstrengung daran hindern, die Hände zu ringen. »Was soll ich tun? Wie soll ich ihn aufhalten?«
Morgenthau lächelte viel sagend. »Halten Sie ihn nicht auf.«
»Was?«
»Lassen Sie ihn gewähren. Sorgen Sie nur dafür, dass man das, was auch immer er tut, nicht zu uns zurückzuverfolgen vermag.«
Eberly starrte sie an und versuchte sich einen Reim auf ihre Worte zu machen.
Morgenthau ging weiter, als ob sie auf einer Promenade entlang schlenderte. »Wir wollen, dass Vyborg die Leitung der Kommunikations-Abteilung übernimmt. Wenn er bereit ist, einen Schritt in diese Richtung zu tun, wieso sollte man ihn stoppen?«, fragte sie.
»Was, wenn er ein Verbrechen begeht? Was, wenn er erwischt, gefasst und inhaftiert wird?«
»Deshalb dürfen wir uns mit ihm auch nicht in Verbindung bringen lassen — erst dann, wenn er Erfolg gehabt hat.«
»Falls er aber scheitert…«
»Falls er Erfolg hat, ist er einen Schritt näher an unserem Ziel. Falls er aber scheitert, vermögen wir guten Gewissens zu sagen, dass wir damit nichts zu tun hatten.«
»Angenommen, er schafft es nicht«, sagte Eberly, »und er wird erwischt und belastet mich?«
»Dann haben Sie saubere Hände und ein reines Herz«, sagte Morgenthau honigsüß. »Ich bin sicher, dass es Ihnen mit Ihrer Überredungskunst gelingen wird, Wilmot und der ganzen Bevölkerung plausibel zu machen, dass man Sie zu Unrecht beschuldigt hat. Weil es nämlich die Wahrheit ist.«
Eberly ging schweigend weiter, und Morgenthau hielt mit ihm Schritt. Sie will, dass Vyborg losschlägt. Es würde ihr nicht einmal etwas ausmachen, wenn er einen Mord beginge. Wieso?, fragte er sich. Und gab sich auch gleich die Antwort: weil Vyborg dann durch sie erpressbar wäre. Und ich auch. Sie toleriert mich als Aushängeschild, weil ich Leute organisieren und auf unsere Seite ziehen kann. Aber sie ist die graue Eminenz. Sie hat hier die eigentliche Macht.
Interkonfessionelle Kapelle
Angesichts von zehntausend Seelen im Habitat und nur einer kleinen Kapelle, in der man Andacht halten konnte, sollte man meinen, dass dieses Gotteshaus Tag und Nacht überfüllt wäre, sagte Ruth Morgenthau sich, als sie in der ersten Reihe niederkniete. Aber nein, es ist leer außer mir.
Kalter Zorn erfüllte sie. Zehntausend Menschen und keiner liebt Gott genug, um hier zum Gebet niederzuknien. Nur ich. Ich bin die Einzige hier.
Nicht ganz, sagte eine innere Stimme streng. Gott ist auch hier. Verneige dich zum Gebet. Bekenne deine Sünden und bitte deinen Schöpfer um Vergebung.
Also betete Morgenthau.
Sie hatte zu Gott gefunden — oder vielmehr hatte Gott sie gefunden —, als sie eine dürre vierzehnjährige Prostituierte in den schmutzigen Gassen Nürnbergs gewesen und einem allzu frühen Tod durch Unterernährung, Krankheit und Drogenmissbrauch entgegengeeilt war. Die Heiligen Jünger hatten sie gerettet, ihren Leib geheilt und ihre Seele gereinigt.