Doch der Hunger war geblieben. Sie wurde sich aber rechtzeitig bewusst, dass der Hunger Teufelswerk war, der heimtückische, unausweichliche Hunger, durch den sie der ewigen Verdammnis anheim fallen würde, wenn sie nicht jeden wachen Moment dem Dienst Gottes widmete. Sie betete um Erlösung, für die Kraft, dieses ständige, quälende Bedürfnis zu überwinden. Oft betete sie auch für den Tod, denn sie glaubte, nur der Tod würde ihrer Seelenqual ein Ende setzen. Sie versagte sich die Gesellschaft von Frauen und schlief allein in einer spartanischen Mönchszelle, um der Versuchung aus dem Weg zu gehen und den quälenden Hunger zu unterdrücken.
Und dann fand sie einen Ersatz, die lässliche Sünde, die den verbotenen Hunger sublimierte: Macht. Durch das Arbeiten mit Männern, indem sie praktisch jeden wachen Moment von den Männern umgeben war, die sie verabscheute und fürchtete, lernte sie schließlich ihre Machtspiele zu spielen. Sie ließ sich bewusst gehen, um körperlich unattraktiv zu wirken. Aber sie feilte am Verstand und den Instinkten. Sie stieg in der Hierarchie der Heiligen Jünger auf. Niemand ahnte etwas von ihrem unterdrückten Verlangen. Männer und Frauen gleichermaßen respektierten ihre wachsende Macht.
Als man sie schließlich bat, an der Saturn-Mission teilzunehmen, sagte sie freudig zu.
»Wir haben jemanden ausgewählt, um eine gottesfürchtige Regierung im Weltraum-Habitat zu organisieren«, sagte ihr Vorgesetzter, »aber er ist nicht der Zuverlässigsten einer. Er behauptet zwar, ein Gläubiger zu sein, aber bei seinem Sündenregister kommen mir doch Zweifel an seinem Glauben.«
Morgenthau nickte. »Ich verstehe«, sagte sie. Und sie verstand wirklich. Das war nämlich die Gelegenheit zur Machtausübung, zur Herrschaft über zehntausend Männer und Frauen. Eine große Chance. Aber auch eine schreckliche Versuchung.
Also kniete sie allein in der kleinen Kapelle des Habitats und betete flehentlich um eine Handreichung. Und um Macht. Macht war gut, und Macht im Dienste Gottes war ein absoluter Segen. Sie hielt den Hunger im Zaum. Sie beschwichtigte die Teufel, die in ihr tobten.
Morgenthau betete um Seelenfrieden, um Demut und um Verständnis des Weges, den sie nach Gottes Willen gehen sollte. Doch vor allem betete sie um Macht.
335 Tage bis zur Ankunft
Holly war verlegen, als sie Gaeta nach zwei Tagen wieder sah. Sie hatte einen guten dienstlichen Grund, ihn anzurufen, doch anstatt ihn zu sich ins Büro zu bitten, lud sie ihn zum Mittagessen ein. Er war einverstanden; allerdings unter der Bedingung, dass sie sich im Bistro und nicht in der Cafeteria trafen. Holly zögerte und fragte sich, ob er es dort vielleicht romantischer fand.
»Keine Sorge, ich lade dich ein«, sagte er.
Holly lachte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war, und verabredete sich mit ihm im Bistro.
Trotzdem wurde sie immer nervöser, als es auf Mittag zuging. Wir haben eine Nacht zusammen verbracht, und er hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Ich rufe ihn wegen einer dienstlichen Angelegenheit an, aber er will im Bistro zu Mittag essen, weil es dort gemütlicher und das Essen besser ist und vielleicht glaubt er, wir würden anschließend zu mir gehen und miteinander schlafen. Was aber auch keine Katastrophe wäre, sagte sie sich und grinste trotz des Schuldgefühls. Aber ich darf mich weder mit ihm noch mit sonst jemandem einlassen, weil Malcolm der Mann ist, den ich wirklich will.
›Ist das wirklich wahr?‹, fragte eine leise Stimme in ihrem Kopf. ›Malcolm hat noch nicht einmal deine Hand gehalten. Liebst du ihn wirklich?‹
Ja, sagte sie so schnell, dass erst gar kein Zweifel aufkommen konnte. Die Stimme meldete sich nicht mehr.
Gaeta saß schon an einem Tisch, als Holly das Bistro erreichte. Er sprang förmlich auf, und ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem runzligen Gesicht.
Das Bistro war so winzig, dass die meisten Tische draußen im Gras standen. Dass es regnete, war im Habitat nicht zu befürchten, und der einzige Wind war die leichte Brise, die von den großen Umwälzpumpen an den Enden des Habitats erzeugt wurde. Unterm Boden verlegte Schläuche bewässerten je nach Erfordernis die Wiesen und Felder, ohne Wasser in die Luft zu sprühen. Sensoren regelten den Feuchtigkeits- und Nährstoffgehalt des Bodens. Es gab weder Fliegen noch sonstiges umherschwirrendes Getier im Habitat, obwohl Holly wusste, dass der Boden von Ameisen, Würmern und den mikroskopischen Lebewesen wimmelte, die sterilen, toten Regolith vom Mond in fruchtbaren Humus verwandelten.
»Entschuldige die Verspätung«, sagte Holly und setzte sich auf den Stuhl, den Gaeta für sie freigehalten hatte.
»Nur fünf Minuten«, sagte er und nahm auch wieder Platz.
»Manchmal kommt man kaum aus dem Büro 'raus. Es gibt immer irgendetwas zu tun.«
Der flachköpfige Servier-Roboter kam an ihren Tisch gerollt; die Speise- und Weinkarte wurden auf der Touchscreen angezeigt. Sie trafen ihre Wahl, und der Roboter bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch ins Restaurant zurück.
»Wir konzipieren gerade eine schöne kleine Doku über die Rettung«, sagte Gaeta. »Sie bekommt einen vorderen Platz bei den Nachrichtensendern. Sie übertrifft jetzt schon die Einschaltquoten für den Vorbeiflug am Jupiter.«
»Das ist ja großartig.«
Der Roboter kam mit ihren Drinks zum Tisch zurückgerollt. »Weshalb möchtest du mich nun sprechen?«, fragte Gaeta, als er Holly ihr mit einer Frostschicht überzogenes Cola-Glas reichte. Er wirkt vorsichtig, beinahe skeptisch, sagte Holly sich.
»Ich muss mit dir über Tavalera sprechen — den Typen, den du gerettet hast«, sagte sie.
»Wie? Er will einen Anteil?«
Das wunderte Holly »Nein. Daran denkt er wahrscheinlich nicht einmal. Er will einfach nur nach Hause.«
»Zurück zur Erde?«
»Richtig.«
Gaeta zuckte die Achseln. »Er kann von mir aus bei uns mitfliegen, wenn wir euch verlassen.«
»Genau darum wollte ich dich bitten.«
»Sicher. Kein Problem. Fritz wird das nicht gefallen, aber der Typ ist Ingenieur, nicht wahr? Also kann er als Reserve-Techie mitfliegen. Dann ist Fritz auch wieder zufrieden.«
Holly wurde sich bewusst, dass sie sich plötzlich nichts mehr zu sagen hatten. Außer allem.
Sammi Vyborg ließ das Mittagessen ausfallen. Er blieb im Büro und verfolgte Don Diego mit den Überwachungskameras, die überall im Habitat installiert waren. Kananga hatte ihm den Code der Sicherheitsabteilung für den Zugang zu den Kameras gegeben.
Der alte Mann hatte den Morgen wie immer im Büro zugebracht und die Routinevorgänge abgearbeitet, mit denen er sich als stellvertretender Leiter der Kommunikationsabteilung befassen musste. Dann war er gegangen und hatte sich in sein Apartment zurückgezogen. Über die Kameras auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes sah Vyborg Romero den Weg zum Apartmentgebäude entlanggehen. Er ging langsam, als ob er alle Zeit dieser Welt hätte. Nach ein paar Minuten kam er wieder zum Vorschein. Er war nun mit einem alten, verschlissenen Arbeitsanzug bekleidet und steuerte auf den Wald jenseits des Dorfs zu — auch wie gehabt.
Den Zugang zu den Kameras in Romeros Apartment hatte Morgenthau ihm jedoch verwehrt.
»Das sind sensitive Daten«, hatte sie gesagt. »Nur mir und einem sehr kleinen Kader eingeschworener Gläubiger ist es gestattet, diese Aufzeichnungen zu sehen. Außerdem«, sagte sie mit einem spöttischen Lächeln, »wollen wir doch niemandes Privatsphäre verletzen, oder?«
Also musste der frustrierte Vyborg sich über die Außenkameras ein Bild machen.
Ungeduldig schaltete er von einer Kamera zur andem und behielt Romero im holografischen Blick, bis der alte Mann auf der zum Bewässerungskanal hin abfallenden Böschung verschwand. Es gab dort keine Kameras. Vyborg wusste aber, dass er allein dort draußen war — außer dieser jungen Frau aus Morgenthaus Abteilung, die ihm hin und wieder zur Hand ging. Ich werde Morgenthau veranlassen, sie an dem Tag zu beschäftigen, wenn ich zuschlage. Das sollte ein Leichtes sein. Aber wie soll ich den alten Mann beseitigen? Es muss wie ein Unfall aussehen.