Vyborg löschte den Bildschirm. Dann schloss er die Augen und sann über das Problem nach. Kananga, sagte er sich. Kananga wird wissen, was zu tun ist. Dieser Auftrag wird ihm bestimmt Spaß machen.
Eberly schaute wie ein Kunstliebhaber, der einen Rembrandt bewundert, auf das über dem Schreibtisch schwebende Dokument.
Sie ist perfekt, sagte er sich und lehnte sich zurück. Eine Verfassung, gegen die unmöglich jemand zu stimmen vermochte. Jede hochgestochene Floskel aus der Geschichte, die von der Freiheit des Menschen kündete, war im Dokument enthalten. Und diese winzige Klausel, die tief im ganzen verbalen Dickicht versteckt war und es der Regierung erlaubte, alle Bürgerrechte für die Dauer eines Notstands außer Kraft zu setzen.
Es wird Zeit, sie den Leuten zu präsentieren. Sollen sie die Feinheiten erörtern und den Wortlaut Paragraph für Paragraph, Satz für Satz, zerpflücken. Sollen sie die nächsten Monate damit zubringen, das Dokument auseinander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen. Sollen sie ausgiebig diskutieren und sich die Köpfe heiß reden. Am Ende werden sie sich auf etwas einigen, das dieser Vorlage sehr nahe kommt. Und ich werde dafür sorgen, dass die Notstandsklausel unverändert übernommen wird.
Er faltete andächtig die Hände und führte sie an die Lippen. Da wird Morgenthau sich aber freuen. Ich werde den uneingeschränkten Rückhalt der Neuen Moralität, der Heiligen Jünger und aller anderen Gläubigen genießen, die in der Bevölkerung verstreut sind. Sie werden für diese Verfassung stimmen. Sie werden einen massiven Stimmenblock bilden, auf den ich zählen kann. Falls überhaupt, werden sie den Text noch restriktiver fassen wollen, als er ohnehin schon ist. Ich vermag mir jetzt schon vorzustellen, wie Wilmot, Urbain und der Rest der Wissenschaftler sich mit den Gläubigen in die Haare kriegen! Das wird bestimmt lustig. Das Unterhaltungsprogramm für die nächsten Wochen steht schon fest.
Wenn die Verfassung dann in Kraft getreten ist, wird auch die Zeit kommen, die neuen Führer des Habitats zu wählen. Nein, Führer im Plural ist falsch. Es kann hier nur einen Führer geben, und der bin ich.
Und wenn ich gewählt worden bin, werde ich erst einmal eine Säuberungsaktion durchführen. Dann werden alte Rechnungen beglichen, und ich sorge dafür, dass Morgenthau und diese Spinner von der Neuen Moralität vor mir im Staub kriechen.
Während sie zum Büro zurückging, wusste Holly nicht, ob sie Enttäuschung oder Erleichterung verspürte. Sie verspürte beides. Und sie war verwirrt.
Das Essen mit Manny war angenehm, sogar vergnüglich gewesen. Er hat auch nicht gefragt, ob wir zu mir gehen wollten. Wieso eigentlich nicht?, fragte sie sich. Er war warmherzig und freundlich, aber es schien, ais ob ihr kürzliches intimes Zusammensein nie stattgefunden hätte. Als ob er an Gedächtnisschwund oder so etwas litte. Einfach aus seinem Speicher gelöscht.
Sind alle Männer so? Hat es ihm denn überhaupt nichts bedeutet? Sie wurde sich bewusst, dass es ihr jedenfalls viel bedeutet hatte. Aber da war noch Malcolm. Vielleicht ist es auch besser, dass Manny sich eigentlich gar nicht für mich interessiert. Er hatte nur ein Abenteuer mit mir, das ist alles. Ich sollte es nicht so ernst nehmen. Aber er war so…
Sie spürte, dass sie den Tränen nahe war.
Vielleicht sollte ich mit Don Diego darüber sprechen, sagte sie sich. Dann schüttelte sie den Kopf. Damit kann ich ihm doch nicht kommen. Ich würde dastehen wie ein dummes Schulmädchen oder noch schlimmer. Aber ich muss mit jemandem darüber sprechen. Ich brauche einen Freund, und er ist der einzige wahre Freund, den ich habe.
Kananga lauschte Vyborg, ohne ein Wort zu sagen, ohne ein Kopfnicken oder eine sonstige Geste — und er schien nicht einmal zu blinzeln. Er ging im trüben Abendlicht neben Vyborg her, sein kahl geschorener Schädel glänzte im Schein der Lampen am Wegesrand, und hörte so konzentriert zu, dass Vyborg sich schon fragte, ob der Mann vielleicht die Sprache verloren hätte.
»Was glauben Sie, was wir in dieser Sache tun können?«, fragte Vyborg schließlich.
»Wieso kommen Sie mit diesem Problem überhaupt zu mir?«, fragte Kananga seinerseits.
Vyborg schaute ihn finster an. »Weil Sie ein Mann der Tat sind. Weil Sie ohne mich nicht an Bord dieses Habitats wären. Ich habe die Friedenstruppe davon überzeugt, Sie auswandern zu lassen. Sonst hätte man Sie wegen Genozids vor Gericht gestellt.«
Kanangas dunkles Gesicht blieb unbewegt. Aber die alte Wut wallte wieder in ihm auf. Genozid! Die Hutus haben uns zu Tausenden abgeschlachtet, und niemand hat auch nur einen Finger gerührt. Und als wir dann die Macht ergriffen und es den Hutu mit gleicher Münze heimzahlten, kamen die Friedenstruppen mit ihren Satelliten-Kameras und Laserwaffen. Sie haben uns verhaftet und vors Internationale Kriegsverbrechertribunal gestellt.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Vyborg — in Verkennung der Wut in Kanangas Augen — in einem etwas moderateren Ton. »Niemand sonst vermag das für mich zu tun. Helfen Sie mir, diesen alten Mann loszuwerden. Bitte.«
Der große, schlanke Ruander holte tief Luft. »Da gäbe es aber ein Problem«, sagte er und wies auf einen der Laternenpfähle, die den Weg säumten, auf dem sie gingen.
Vyborg begriff sofort. »Die Kameras.«
Kananga nickte bedächtig. »Morgenthau hat sogar Kameras in den Apartments installieren lassen.«
»Ja, ich weiß.«
»Wenn wir aber etwas in seinem Apartment unternehmen, bin ich sicher, dass wir Morgenthau dazu bewegen könnten, das Video zurückzuhalten.«
»Dann könnten wir ihn also unauffällig im Apartment um die Ecke bringen«, sagte Vyborg hoffnungsvoll.
»Aber was sollen wir hinterher mit der Leiche machen?« Kananga legte eine kaum wahrnehmbare Betonung auf das Wort ›wir‹, aber Vyborg hörte es dennoch und zog die richtigen Schlüsse daraus.
»Es muss wie ein Unfall aussehen. Oder wie ein natürlicher Tod. Er ist schließlich ein alter Mann.«
»In einer ausgezeichneten gesundheitlichen Verfassung. Ich habe seine Krankenakte überprüft.«
»Menschen sterben trotzdem«, blaffte Vyborg.
»Ja, vor allem, wenn sie Sterbehilfe bekommen«, sagte Kananga mit einem heiseren Kichern.
»Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?«, fragte Vyborg, der zunehmend ungehalten wurde.
Kananga schwieg für eine so lange Zeit, dass Vyborg schon mit einer Ablehnung rechnete. Schließlich sagte er jedoch: »Es gibt keine Überwachungskameras unten in den Kanälen, wo er so viel Zeit verbringt, nicht wahr?«
Das stimmt, sagte Vyborg sich.
328 Tage bis zur Ankunft
Alle Abteilungsleiter hatten sich um den ovalen Konferenztisch versammelt. Wilmot saß an einer Seite in der Mitte, flankiert von Urbain und der rundgesichtigen dunkelhaarigen Andrea Maronella, der Leiterin der Agro-Gruppe. Eberly, der Wilmot genau gegenübersaß, betrachtete die Frau nach wie vor als ›Landpomeranze‹.
Einer nach dem andern referierten die Abteilungsleiter eine Kurzfassung der Wochenberichte. Eberly war schier zu Tode gelangweilt. Wieso zeichnet Wilmot nicht eine dieser Besprechungen auf und spielt sie jede Woche wieder ab?, fragte er sich. Damit würden wir alle ein paar Stunden Zeit sparen, und im Ergebnis käme es fast aufs Gleiche 'raus.
»Das war's dann wohl«, sagte Wilmot, nachdem der letzte Redner verstummt war. »Liegt noch etwas an?«
»Raoul Tavalera hat eine Stelle in der Instandhaltungsabteilung angenommen«, sagte Eberly. »Dem Vernehmen nach ist er nun mit Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten beschäftigt.«
Tamiko O'Malley, der kleine japanische Leiter der INST, nickte bestätigend. »Er ist ein brauchbarer Techniker. Obwohl er so schnell wie möglich wieder zur Erde zurückkehren will.«