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Cardenas legte die Gabel hin und nahm einen Schluck Limonade. Dann ließ sie den Blick über die auf dem Rasen verstreuten Tische schweifen, von denen die meisten leer waren, dann richtete sie den Blick wieder in Hollys Richtung. Ihre strahlend blauen Augen schauten traurig, nicht verärgert; sie schienen an Holly vorbei in eine schmerzliche Vergangenheit zu blicken.

»Ich will nicht, dass jemand etwas davon erfährt«, sagte sie. »Ich werde es Ihnen erzählen, aber nur wenn Sie mir versprechen, es für sich zu behalten.«

Holly wollte schon zustimmen, doch dann sagte sie: »Ich werde aber meiner Chefin darüber berichten müssen.«

Cardenas schüttelte den Kopf. »Dann vergessen Sie es. Ich würde es Ihnen sagen, Holly, aber ich will nicht, dass es allgemein publik wird. Wenn Sie es Ihrer Chefin sagen, wird man mir nicht erlauben, hier Nanotech-Arbeiten durchzuführen.«

»Wieso denn nicht?«

»Weil ich Beihilfe zum Mord geleistet habe«, sagte Cardenas unverblümt.

Holly spürte, wie ihr die Kinnlade herunterklappte.

»Ich habe es zwar nicht vorsätzlich getan«, erklärte Cardenas. »Aber es war trotzdem schlimm genug.«

Als ob ein emotionaler Damm gebrochen wäre, erzählte Cardenas Holly die ganze Geschichte. Dass sie wegen der Nanobots, die sich in ihrem Körper tummelten, nach Selene verbannt worden war und nicht mehr zur Erde zurückkehren durfte. Dass ihr Mann sich geweigert hatte, sie auf dem Mond zu besuchen, dass ihre Kinder sich gegen sie gewandt hatten und dass sie ihre Enkelkinder nie gesehen hatte. Die Wut. Die Schmerzen und Tränen und der heiße Zorn auf die Narren und selbstzufriedenen Ignoranten, die die Angst der Menschen vor der Nanotechnik instrumentalisierten, um ihr Leben zu zerstören.

Sie erzählte Holly von Martin Humphries' Angebot. »Er sagte, er brächte mich zur Erde zurück, wenn ich ihm dabei helfen würde, das Raumschiff eines Konkurrenten zu sabotieren. Er war, weiß Gott, reich genug, um alles zu kaufen. Ich glaubte, er würde mir helfen. Ich hatte keine Ahnung, dass die Beschädigung eines Raumschiffs den Tod eines Menschen zur Folge haben sollte. Also ließ ich mich von Humphries kaufen, und sein größter Konkurrent starb, als das Raumschiff eine Panne hatte.«

»Dann sind Sie also niemals wieder zur Erde zurückgekehrt? Haben Ihre Familie nie wieder gesehen?«, fragte Holly mit leiser Stimme.

»Nie«, sagte Cardenas. »Als ich hörte, dass Dan Randolph wegen meiner Komplizenschaft gestorben war, habe ich gegenüber der Regierung von Selene ausgepackt. Ich habe sogar versucht, Selbstmord zu begehen, aber das hat nicht geklappt. Zur Strafe wurde ich aus Selenes Nanotech-Labor ausgeschlossen. Also ging ich nach Ceres, einem Vorposten im All, und arbeitete jahrelang mit den Felsenratten. Keine Nanotech-Arbeit. Ich schwor, nie wieder Nanotech-Forschung zu betreiben.«

»Aber nun wollen Sie wieder damit anfangen. Und zwar hier.«

Cardenas nickte. Sie wahrte zwar die Contenance, machte aber ein Gesicht, als ob sie von der Last der ganzen Welt niedergedrückt würde. »Ich habe beschlossen, dass ich nun genug gebüßt habe. Ich kann euch hier eine Hilfe sein. Ich will noch mal ein neues Leben beginnen.«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte Holly.

»Wir beide sind Seelenverwandte.«

»Gut möglich.«

Cardenas musterte sie mit diesen strahlend blauen Augen. »Was werden Sie Ihrer Vorgesetzten also sagen?«

Hollys Entschluss stand bereits fest. »Nichts«, sagte sie. »Ich werde ihr nur sagen, dass Sie aus freien Stücken nach Ceres gegangen seien, um mit den Felsenratten zu arbeiten. Das ist schließlich nicht einmal gelogen, nicht wahr?«

Zum ersten Mal lächelte Cardenas. »Nein, das ist nicht gelogen. Es ist zwar auch nicht die Wahrheit — zumindest nicht die ganze Wahrheit. Aber es ist auch keine Lüge.«

Lächelnd ging Kananga auf Don Diego zu und blieb auf Armlänge entfernt vor ihm stehen. »Nein, ich bin nicht von der Instandhaltungsabteilung«, wiederholte er. »Ich habe vor, die Instandhaltungsabteilung von meiner Arbeit hier zu informieren«, sagte Don Diego, »aber ich habe noch nicht…«

Mit der Schnelligkeit eines springenden Leoparden schlug Kananga dem alten Mann voll auf den Solarplexus. Don Diego brach ohne einen Laut zusammen.

Kananga fing den alten Mann auf und hob ihn mühelos hoch. Keine Schleifspuren, sagte er sich. Keine Spuren am Tatort hinterlassen.

Er trug den keuchenden und benommenen Don Diego die Böschung hinab zum Betonbett des Kanals. Der alte Mann hustete und stöhnte; er schlenkerte schwach mit den Beinen und schlug mit flatternden Lidern die Augen auf.

Kananga kniete sich hin und drückte sein Gesicht in den Kanal. Dabei drückte er vorsichtig, fast zärtlich gegen den Hinterkopf, um ihn unter Wasser zu halten. Don Diego stieß noch ein paar Luftblasen aus, zappelte schwach und erschlaffte dann. Das aufgewühlte Wasser floss wieder ruhig dahin. Kananga hielt Don Diego weiter unter Wasser gedrückt und zählte langsam bis hundert. Dann ließ er ihn los.

Zufrieden mit der grausigen Verrichtung stand Kananga auf. Nicht schlecht, sagte er sich und schaute sich um. Keine Furchen im Erdboden, keine Schleif spuren auf dem Beton, keinerlei Anzeichen eines Kampfes.

Niemand wird es je erfahren.

323 Tage bis zur Ankunft

Holly entdeckte die Leiche. Sie hatte Cardenas im Bistro zurückgelassen und war zum Kanal gegangen, wo Don Diego gearbeitet hatte. Zuerst sah sie keine Spur von ihm. Dann erspähte sie seinen Körper am unteren Rand der Böschung, halb im Wasser.

Sie schrie nicht. Sie weinte nicht einmal, als sie sich Stunden später in der Abgeschiedenheit ihrer Unterkunft befand — lange nachdem sie die Leiche des alten Manns aus dem Kanal gezogen und das medizinische Notfall-Team ihn für tot erklärt hatte.

Sie träumte in dieser Nacht von dem Vater, an den sie sich nicht zu erinnern vermochte. Manchmal erschien er ihr im Traum als Don Diego; manchmal war er eine schemenhafte gesichtslose männliche Gestalt, groß und fast schon bedrohlich. Einmal drehte der Mann ohne Gesicht ihr den Rücken zu, und sie war wieder ein kleines Kind, das gerade erst laufen lernte. Pancho war im Traum auch irgendwie präsent, doch am meisten wünschte Holly sich, dass ihr Vater sich umdrehte, damit sie sein Gesicht zu sehen vermochte. Sie wollte ihn rufen, doch kein Laut entrang sich der Kehle. Sie streckte die Hand nach dem Mann aus, und als er sich schließlich doch zu ihr umdrehte, sah sie Malcolm Eberly mit kaltem Blick auf sie herunterschauen.

Holly schreckte aus dem Schlaf und setzte sich im Bett auf; der verstörende Traum löste sich langsam auf wie eine Wolke an einem Sommertag. Sie duschte und kleidete sich schnell an, ließ das Frühstück ausfallen und ging direkt zum kleinen Krankenhaus des Habitats. Sie wollte mit dem Arzt sprechen, der Don Diegos Leiche untersucht hatte. Sie wusste, dass sie eigentlich Morgenthau anrufen und ihr sagen sollte, dass sie später zur Arbeit käme, aber die Mühe machte sie sich nicht.

Im Krankenhaus war es still. Es herrschte eine ruhige, gelassene Atmosphäre. Die Belegschaft des Habitats war im Großen und Ganzen in einer guten körperlichen Verfassung und machte trotz des kalendarischen Alters einen jugendlichen Eindruck. Die größten medizinischen Probleme waren Unfälle und psychische Erkrankungen. Und der plötzliche Tod eines achtundneunzigjährigen Mannes, sagte Holly sich.

Dr. Yanez' gewohnheitsmäßiges fröhliches Lächeln verschwand, als Holly ihn nach der Ursache von Don Diegos Tod befragte.

»Sehr bedauerlich«, sagte er. »Sehr traurig. Er war ein wunderbarer Mensch. Wir hatten viele lange Gespräche miteinander geführt.«

Er fasste Holly sanft am Ellbogen und führte sie zur Tür, die zum Garten im Innenhof des Krankenhauses führte.

»Ich will Sie aber nicht von der Arbeit abhalten«, sagte Holly.