»Wirklich?«
Er lachte. »Dachte ich's mir doch. Du hast ihn noch nicht gesehen, stimmt's?«
»Seit einiger Zeit schon nicht mehr«, sagte Holly.
Er hatte schon zwei Elektrofahrräder vor dem Gebäude bereitgestellt. Holly folgte ihm, und sie fuhren den verschlungenen Pfad durch den Park entlang, durch den Obstgarten und das Ackerland in Richtung des Endstücks. Sie stellten die Fahrräder im Ständer am Ende des Weges ab und beschritten dann einen schmalen Fußweg, der zwischen blühenden Büschen und ein paar Bäumen aufwärts führte.
»Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen«, murmelte Gaeta.
»Woran?«
»An die künstliche Schwerkraft hier drin. Wir gehen eine Steigung hinauf, aber es hat dennoch den Anschein, als ob wir einen Abhang hinuntergingen.«
»›Die spininduzierte Gravitation des Habitats‹«, zitierte Holly gouvernantenhaft aus dem Orientierungs-Handbuch, »›nimmt mit der Annäherung an die Mittellinie des Habitats ab.‹ Genau das tun wir gerade.«
»Ach so«, sagte er. Es klang aber nicht sehr überzeugt.
Schließlich kamen sie zu einem kleinen Gebäude mit einer einzigen Tür, an der stand: ZUM BUGBEOBACHTUNGSPOSTEN. Im Innern führte eine schwach beleuchtete Metalltreppe nach unten. Während sie mit den Softboots leise die Stahlstufen hinuntergingen, hatte Holly auch das Gefühl, aufwärts anstatt abwärts zu gehen.
»Wir sind nicht mehr in Oz«, murmelte Gaeta, während sie im zwielichtigen Treppenhaus hinabstiegen. Seine Stimme hallte leise von den Metallwänden wider.
»Oz?«, fragte Holly.
»Das ist eine alte Geschichte. Ich werde dafür sorgen, dass das Video von der Erde zu dir überspielt wird.«
Holly hatte keine Ahnung, wovon er eigentlich sprach. Dann endete die Treppe, und sie gingen einen schmalen Gang entlang, einen Tunnel, der an der Decke und den Wänden von Rohrleitungen und Kabelsträngen gesäumt wurde. Obwohl der Tunnel gerade und eben anmutete, hatten sie das Gefühl, eine Steigung zu erklimmen. Schließlich erreichten sie ein Schott mit der Aufschrift BUGBEOBACHTUNGSPOSTEN: VORSICHT BEIM EINTRETEN. Gaeta tippte auf die Schaltfläche am Eingang, und das Schott öffnete sich mit einem Seufzer.
›Vorsicht bitte‹, sagte eine Stimmaufzeichnung. ›Sie betreten einen rotierenden Raum. Bitte seien Sie vorsichtig.‹
Eine offene Kammer befand sich auf der anderen Seite des Schotts. Wände, Boden und Decke waren weich gepolstert.
Gaeta lachte, als sie eintraten. »Großartig. Nun hat man mich in eine Gummizelle gesteckt.«
›Rotation wird eingeleitet‹ meldete die Stimme.
Holly fühlte sich plötzlich leicht, fast benommen.
»Es ist wie eine Fahrt in einer Achterbahn«, sagte Gaeta und fasste Holly um die Hüfte.
›Zehn Sekunden bis zur Öffnung der Luke. Vorsicht bitte.‹
Die gepolsterte Wand, der sie gegenüberstanden, glitt auf, und Gaeta, der Holly noch immer um die Hüfte gepackt hielt, zog sie hindurch. Holly schnappte nach Luft und vergaß das weiche Gefühl in den Knien. Eine Million Sterne waren in ihrem Blickfeld verstreut: Stecknadelköpfe aus grellem Licht — die Augen des Himmels schauten sie an.
»Kosmisch«, sagte sie atemlos.
»Das ist eine treffende Bezeichnung dafür«, sagte Gaeta mit gedämpfter Stimme.
Dann merkte Holly, dass schon jemand in der trübe erleuchteten Kuppel war. Die Person hatte ihnen den Rücken zugewandt und schaute zu den Sternen hinaus. Sie wirkte klein und korpulent; die Farbe der Igelfrisur war im Zwielicht schwer zu bestimmen. Holly sagte sich, dass es vielleicht Rot war.
Die Frau regte sich, als ob sie aus einer Trance erwachte, drehte sich etwas um und sagte: »Hi.«
»Hallo«, erwiderte Holly genauso leise. Es war wie in einer Kirche — niemand hob die Stimme.
»Der Raum rotiert gegen die Drehrichtung des Habitats«, sagte Gaeta leise. »Man kann also etwas ins Auge fassen, ohne dass es sich um einen dreht.«
Holly wusste das bereits aus den Orientierungsvideos, doch spielte das im Moment keine Rolle. Der Anblick des vor ihr ausgebreiteten Universums verdrängte alles andere aus dem Bewusstsein. So viele Sterne!, sagte sie sich. Millionen und Abermillionen. Rote Sterne, blaue Sterne, große helle Sterne und kleine trübe.
Gaeta beugte sich über ihre Schulter. »Dieser blaue Stern dort. Das ist die Erde«, sagte er und wies in die entsprechende Richtung.
»Und der helle gelbe?«
»Jupiter.«
»Und wo ist der Saturn?«, fragte sie.
Die andere Frau zeigte zum unteren Rand des großen gewölbten Fensters. »Dort.«
Holly schaute auf einen hellen rosigen Stern. Nein, kein Stern; sie sah, dass es sich um eine Scheibe handelte, die an den Polen abgeplattet war.
Dann machte es bei ihr ›klick‹. »Wo sind die Ringe? Ich sehe keine Ringe!«
Ringwelt
Die Frau lächelte Holly an. »Galilei ist es genauso wie Ihnen ergangen. Die verdammten Ringe sind ihm abhanden gekommen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Holly und ließ den Blick von der rosigen Scheibe des Planeten zu dem runden Eulengesicht der Frau schweifen, die halb verborgen im Schatten der trübe beleuchteten Beobachtungskuppel stand.
Die Frau lächelte — irgendwie traurig, wie Holly fand. »Galilei war der Erste«, sagte sie, »der feststellte, dass es mit dem Saturn eine besondere Bewandtnis hatte. Das war 1609, 1610, so um den Dreh. Sein putziges kleines Teleskop vermochte die Ringe nicht aufzulösen; alles, was er zu sehen glaubte, waren zwei Sterne, die an beiden Seiten der Saturnscheibe hingen. Er hielt sie für zwei große Monde.«
»Und dann verschwanden sie?«, fragte Holly.
»Ja, richtig. Er stellte die Beobachtung des Saturns für eine Weile ein, und als er damit fortfuhr — so um 1612 —, waren die Monde nicht mehr da.«
»Was ist denn mit ihnen passiert?«
»Sie sind natürlich nicht verschwunden. Sie waren noch immer da. Alle fünfzehn Jahre nimmt der Saturn aufgrund seiner Neigung nämlich eine Position ein, wo die Ringe einem irdischen Beobachter den Rand zukehren. Sie sind so verdammt dünn, dass sie scheinbar verschwinden. Dann sind sie mit einem schwachen Fernrohr nicht mehr zu sehen. Auch nicht mit manchen großen Teleskopen.«
»Dann schauen wir im Moment also auf ihre Kante«, sagte Gaeta.
»Das stimmt. Der arme Galilei. Er wusste nicht, was da vorging. Muss schier verrückt geworden sein.«
Holly starrte auf die Scheibe des Saturn, als ob sie die Ringe wieder herbeizaubern könnte.
»Man sieht sie aber in den Teleskopen drüben in der Astronomie-Kuppel«, sagte die Frau. Sie schien noch etwas ergänzen zu wollen, hielt aber inne.
»Sind Sie Astronomin?«, fragte Holly.
»Sozusagen. Nadia Wunderly ist mein Name.« Sie streckte die Hand aus — Finger gespreizt und Daumen hoch. Holly ergriff die Hand und stellte sich und Gaeta vor. Wunderly schüttelte auch ihm die Hand; sie hatte einen ernsten Ausdruck, als ob die Begegnung mit anderen Menschen ein Ritual sei, das korrekt ablaufen musste.
»Wie ist das zu verstehen, dass Sie ›sozusagen‹ eine Astronomin seien?«, fragte Gaeta.
Wunderlys Gesicht wurde noch verdrießlicher. »Ich gehöre zum Team ›Planetenwissenschaften‹«, erläuterte sie, »aber dort sind hauptsächlich Astrobiologen zugange. Sie sind alle aus dem Häuschen wegen Titan.«
»Sie nicht?«
»Nee. Ich interessiere mich für die Saturnringe. Von Haus aus bin ich eigentlich Physikerin mit dem Schwerpunkt Strömungsdynamik.«
Nach einer Stunde waren sie alle in Hollys Apartment und plünderten die Reste im Kühlschrank. Wunderly erklärte ihnen derweil, dass man sich die Saturnringe als eine Flüssigkeit vorstellen könne, wobei jeder Eisbrocken in den Ringen als ein Teilchen in dieser dynamischen, stetig sich verändernden Flüssigkeit wirkte.