»Also rasen die Eisflocken wie auf einer Rennstrecke um den Saturn«, sagte Wunderly und beschrieb einen zittrigen Kreis mit dem Sellerie, den sie in der Hand hielt. »Dabei kollidieren sie wie die Leute, die sich in der Tokioter U-Bahn zusammendrängen.«
»Die ganze Zeit?«
»Die ganze Zeit«, erwiderte Wunderly und biss ein Stück Sellerie ab.
Holly stand auf der anderen Seite der Arbeitsplatte, die die Küche abteilte und wartete darauf, dass die Mikrowelle ein Tiefkühlgericht erhitzte. »Außerdem werden sie von diesen kleinen Monden umkreist?«
»Richtig. Wie Hütehunde. Die Monde verhindern, dass die Ringe ausfransen und sich vermischen.«
Gaeta, der es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und eine Schüssel Chips auf den Waschbrettbauch gestellt hatte, schien tief in Gedanken versunken.
»Und dann gibt es da noch die Speichen«, fuhr Wunderly fort. »Magnetfelder, die die kleineren Eisflocken in der Schwebe halten.« Sie simulierte mit der freien Hand eine senkrechte schlangenartige Wellenbewegung.
»Also knallen sie alle ineinander«, mutmaßte Holly. In dem Moment piepte endlich die Mikrowelle.
»Allerdings sind nicht alle Partikel kleine Flocken. Ein paar sind so groß wie Häuser. Und die Monde durchmessen natürlich ein paar Kilometer.«
»Klingt verwirrend«, sagte Holly und trug das Tablett mit dem dampfenden heißen Gericht ins Wohnzimmer. Dann stellte sie es vor Wunderly auf den Kaffeetisch.
»Klingt gefährlich«, sagte Gaeta und brachte sich in eine aufrechte Position.
»Es ist nur gefährlich, wenn man die Nase 'reinsteckt«, sagte Wunderly. »Deshalb will ich die Ringe auch aus der Ferne studieren.«
»Es ist noch niemand dort gewesen, was?«, fragte er.
»Bei den Ringen? Wir haben schon automatisierte Sonden dorthin geschickt — angefangen mit der alten Cassini vor fast einem Jahrhundert.«
Gaeta setzte sich nun richtig hin; seine Augen funkelten in zunehmender Aufregung. »Ist eine von diesen Sonden auch durch die Ringe geflogen? Ich meine von oben nach unten?«
Wunderly stocherte mit dem dicken Ende des Selleriestrunks auf dem Teller herum. »Sie meinen, durch die Ringebene?«
»Ja, genau.«
Holly setzte sich neben Gaeta aufs Sofa.
»Es wurden natürlich Sonden durch die Lücken zwischen den Ringen geschickt. Aber nicht durch einen Ring selbst. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Die Sonde wäre dabei abgeschmirgelt und zu Schrott geworden. Als ob man sie durch den Wolf gedreht hätte.«
»Manny, du denkst doch nicht etwa daran, das zu tun?«, sagte Holly.
Er drehte sich grinsend zu ihr um. »Das wäre ein Wahnsinns-Stunt, chiquita.«
»Stunt?« Wunderly schaute verwirrt.
»Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt«, erklärte Gaeta ihr. »Ich gehe dorthin, wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist. Je gefährlicher, desto besser.«
»Alles in Maßen«, sagte Holly.
Er lachte nur.
Nun dämmerte es Wunderly. »Sie sind doch derjenige, der den Olympus Mons bestiegen hat! Ich habe das Video gesehen.«
»Das war ich. Und dann bin ich auf Skiern den halben Berg heruntergefahren«, sagte Gaeta mit Stolz in der Stimme.
»Ja, aber Sie können doch nicht im freien Fall durch die Saturnringe fliegen.«
»Wieso nicht?«
»Das wäre lebensgefährlich.«
»Bei einem Stunt begibt man sich immer in Lebensgefahr. Deshalb schauen die Leute auch zu.«
»Sie zahlen Eintritt, um zu sehen, ob man getötet wird.«
Er lachte. »Wie bei den römischen Gladiatoren. Nur dass ich niemanden töten muss. Ich riskiere nur den eigenen Hals.«
»Aber nicht in den Ringen«, sagte Wunderly. »Das wäre Selbstmord.«
»Vielleicht«, sagte Gaeta nachdenklich. »Vielleicht auch nicht.«
Holly wollte ihn von dieser Idee abbringen, bevor sie sich in ihm festsetzte. »Manny…«
»Ich meine, Wilmot und die Wissenschaftsfritzen wollen nicht, dass ich den Titan betrete. Vielleicht wären die Ringe sogar ein noch besserer Stunt. So etwas wie sie gibt es kein zweites Mal im ganzen Sonnensystem.«
»Alle großen Planeten haben doch Ringe«, sagte Holly. »Jupiter, Uranus und Neptun.«
»Ja, aber das sind nur so mickrige kleine Dinger. Pobrecitos.«
»Die eigentliche Frage ist doch«, sagte Wunderly mit funkelnden Augen, »wieso der Saturn ein so prächtiges Ring-Ensemble hat, während die anderen Riesenplaneten nur solche Kümmerlinge haben.«
Gaeta schaute zu Holly und wieder zu Wunderly. Er zuckte die Achseln.
»Ich meine«, fuhr Wunderly fort, »man sollte annehmen, je größer ein Planet ist, desto größer ist auch sein Ring-System. Richtig? Wie kommt es dann, dass der Saturn einen größeren hat als der Jupiter? Zumal diese Ringe nicht starr, sondern dynamisch sind. Teilchen fallen die ganze Zeit auf den Planeten — Teilchen, die ständig von den Monden abgeschliffen werden. Wieso ist das Ringsystem des Saturn so groß? Haben wir nur das Glück, den Saturn exakt zur richtigen Zeit zu sehen, da das Ringsystem groß und aktiv ist? Das glaube ich aber nicht. Irgendetwas ist anders beim Saturn. Etwas Grundlegendes.«
»Und das wäre?«, fragte Holly. »Was macht den Saturn zu etwas Besonderem?«
»WDG«, sagte Wunderly.
»Was?«, fragten Holly und Gaeta gleichzeitig.
»Weiß Der Geier«, erwiderte Wunderly mit einem Grinsen. »Aber ich beabsichtige es herauszufinden.«
Wunderly sprach länger als eine Stunde über die Ringe und wurde mit jedem Wort enthusiastischer. Als Gaeta in Erwägung zog, die Ringe zu durchfliegen, warnte Wunderly vor der Gefahr. »Ich sage Ihnen, das ist unmöglich. Sie würden dabei umkommen«, sagte sie. Was den Stunt für Gaeta nur noch interessanter machte.
Schließlich ging sie, aber nicht, bevor Gaeta ihr das Versprechen abgenommen hatte, ihm alle Videos und die anderen Daten zu zeigen, die sie angehäuft hatte. Er sagte ihr, dass er seinen Cheftechniker mitbringen würde, damit der auch einen Blick darauf werfen könne.
Holly brachte Wunderly noch zur Tür, und nachdem sie sie geschlossen und sich wieder zu Gaeta umgedreht hatte, sah sie, dass sie nun allein waren und er übers ganze Gesicht grinste. Lass dich nicht mit ihm ein, sagte sie sich. Er wird sich früher oder später umbringen. Wahrscheinlich früher.
Und doch ging sie zum Sofa, setzte sich neben ihn und lehnte den Kopf an seine starke, muskulöse Schulter. Und nach ein paar Minuten küssten sie sich, entledigten sich der Kleider. Er trug sie wie eine Eroberung ins Schlafzimmer, und sie dachte gar nicht an Malcolm Eberly. Fast nicht.
317 Tage bis zur Ankunft
Wilmot fühlte sich wie ein genervter Schulmeister, der sich einer Schar unbotmäßiger Schüler gegenübersieht.
»Eine Schlägerei?«, blaffte er sie erzürnt an. »Ihr beide habt euch wirklich geprügelt?«
Die beiden jungen Männer, die vor seinem Schreibtisch standen, schauten belämmert. Einer der beiden hatte eine kleine blauschwarze Schwellung unterm linken Auge. Er hatte rote Haare und rosige Wangen — ein Ire, vermutete Wilmot. Der andere war größer und hatte schokoladenbraune Haut; seine Oberlippe war blutverkrustet. Keiner von beiden sagte ein Wort.
»Und was war der Grund für diesen Streit?«
Die beiden blieben stumm.
»Nun?«, fragte Wilmot. »Raus damit! Weshalb habt ihr euch geschlagen?«
»Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit wegen des Namens für Dorf B«, murmelte der mit dem blauen Auge.
»Eine Meinungsverschiedenheit?«
»Er wollte das Dorf Killarney nennen«, sagte der andere.
»Das ist ein guter Name«, sagte sein Widersacher. »Der da fand ihn aber doof.«
»Und das hat zu Handgreiflichkeiten geführt? Eine Meinungsverschiedenheit wegen der Namensgebung für das Dorf? Was, um Himmels willen, hattet ihr denn intus?«