Alkoholische Getränke wurden in der Cafeteria, wo der Zwischenfall stattgefunden hatte, zwar nicht verkauft, doch die zwei Restaurants des Habitats schenkten Schnaps, Wein und ein selbst gebrautes Bier aus, das von einer der Farmen geliefert wurde.
»Es ist meine Schuld«, sagte der mit der blutigen Nase. »Ich hatte mir im Nemo einen Drink genehmigt, bevor ich in die Cafeteria gegangen bin.«
Wilmot schaute sie beide grimmig an. »Muss ich denn ein totales Alkoholverbot verhängen? Wollt ihr, dass ich das tue?«
Die beiden schüttelten den Kopf. Wilmot studierte ihren zerknirschten Gesichtsausdruck. Wenigstens zeigen sie die gebührende Reue, sagte er sich. Ein Logistikanalytiker und ein Kommunikationstechniker, die sich wie Schuljungen kloppten.
Mit dem finstersten Blick, den er aufzusetzen vermochte, sagte Wilmot: »Noch ein derartiges Vorkommnis, und ich werde eure persönlichen Alkoholprivilegien streichen. Und euch zur Wiederaufbereitungsanlage strafversetzen.«
Der mit dem blauen Auge drehte sich etwas zum anderen um und reichte ihm die Hand. »Es tut mir Leid, Kumpel.«
Sein ehemaliger Gegner ergriff die Hand und drückte sie kräftig. »Ja. Mir auch.«
»Verschwindet von hier, ihr beiden«, knurrte Wilmot. »Und benehmt euch nie wieder so idiotisch.«
Der Kommunikationstechniker eilte von Wilmots Büro zu seinem Quartier, wo er sich mit einem feuchten Waschlappen das eingetrocknete Blut von der Lippe wischte. Dann rief er Oberst Kananga an.
»Ich habe in der Cafeteria eine Schlägerei angefangen«, sagte er zu Kanangas Abbildung auf dem Telefonmonitor.
»Ich habe über meine Kanäle schon davon erfahren«, sagte der Ruander. »Was hat Wilmot deswegen zu Ihnen gesagt?«
»Nicht viel. Er wirkte eher verwirrt als zornig.«
Kananga nickte.
»Was soll ich als Nächstes tun?«
»Im Moment gar nichts. Versehen Sie nur Ihre Pflicht und verhalten sich so, als ob nichts passiert wäre. Ich werde Ihnen schon Bescheid sagen, wenn es so weit ist.«
»Yessir.«
Bei einer Population, die Menschen vieler Glaubensrichtungen umfasste, gab es im Habitat keinen ›Sonntag‹. Deshalb wurde der Tag, an dem die Abstimmung der Phase Eins der Namensgebungs-Wettbewerbe stattfinden sollte, als allgemeiner Feiertag ausgerufen.
Malcolm Eberly saß im Wohnzimmer und verfolgte mit säuerlicher Miene die Nachrichtensendung auf dem Hologrammprojektor. Das Bild zeigte das Wahllokal in Dorf A. Leute betraten die Räumlichkeiten, gaben ihre Stimme ab und gingen wieder. Es war in etwa so spannend, wie Gras beim Wachsen zuzuschauen.
Ruth Morgenthau versuchte ihn aufzuheitern. »Die Wahlbeteiligung ist höher, als mein Stab prognostiziert hat. Es sieht so aus, als ob mindestens vierzig Prozent der Bevölkerung zur Wahl ginge.«
»Begeisterung ist den Leuten aber nicht anzumerken«, knurrte Eberly.
Sammi Vyborg, der an der anderen Seite des Kaffeetischs saß, hob die knochigen Schultern. »In dieser Phase haben wir auch noch keine Begeisterung erwartet. Sie entscheiden schließlich erst über die Kategorien der Namen und noch nicht über die Namen selbst.«
Eberly schaute ihn missbilligend an. »Ich will, dass die Leute in Wallung geraten. Ich will, dass sie sich streiten, dass sie aufeinander losgehen. Ich will, dass Wilmots Autorität in Frage gestellt wird.«
»Das wird schon noch kommen«, versicherte Kananga. Er hatte sich auf dem Sofa zurückgelehnt und die langen Arme auf der Lehne ausgestreckt. »Wir testen verschiedene Ansätze.«
Der Anflug eines Stirnrunzelns erschien bei Eberly. »Ich hörte von der Schlägerei in der Cafeteria.«
»Vorm nächsten Wahltag können wir auch einen Aufstand inszenieren, wenn Sie wollen.«
»Das ist nicht gerade die Art von Begeisterung, die wir brauchen«, sagte Eberly.
»Ein Aufstand wäre gut«, sagte Vyborg. »Dann könnten wir nämlich eingreifen und ihn niederschlagen.«
»Und Sie könnten sich als der Mann profilieren, der dem Habitat Ruhe und Ordnung beschert hat«, sagte Morgenthau und lächelte Eberly an.
»Vielleicht«, sagte er fast sehnsüchtig. »Ich wünschte nur…«
»Sie wünschten, alle würden Ihnen zuhören und zu Füßen liegen«, unterbrach Morgenthau ihn.
»Wenn ich ihr Anführer sein soll, ist es wichtig, dass sie mir vertrauen und mich mögen.«
»Sie werden Sie lieben«, sagte Vyborg mit vor Sarkasmus triefender Stimme, »wenn Sie erst einmal die Macht haben, über Leben und Tod zu entscheiden.«
Am Ende des Wahltags saß Holly am Schreibtisch und zählte die abgegebenen Stimmen aus. Die Wähler hatten sich dafür entschieden, die Dörfer nach Städten auf der Erde zu benennen. Alleinstehende Gebäude würden nach berühmten Persönlichkeiten benannt. Die Farmen, Gartenanlagen und andere offene Flächen sollten nach irdischen Naturwundern oder Gestalten aus der Mythologie benannt werden: Diese Wahl war so knapp ausgegangen, dass man keinen eindeutigen Sieger zu ermitteln vermochte.
Das Telefon meldete einen Anruf von Morgenthau, und Holly wies den Computer an, den Anruf entgegenzunehmen. Morgenthaus Gesicht tauchte neben den Statistiken auf.
»Haben Sie die Ergebnisse?«
»Ja, alles ausgezählt«, sagte Holly mit einem Kopfnicken.
»Dann senden Sie mir die Zahlen.«
Holly warf einen Blick auf die Datenleiste des Telefons unter dem Bild des Anrufers und sah, dass Morgenthau von Eberlys Apartment aus anrief. Sie ärgerte sich darüber, dass Morgenthau bei Malcolm war und dass er sie nicht auch eingeladen hatte. Dann muss ich mich eben selbst einladen, sagte sie sich.
»Ich muss sie zuerst an Professor Wilmot schicken«, sagte sie. »Das ist der Dienstweg.«
»Schicken Sie sie auch gleich zu mir«, sagte Morgenthau.
»Wenn ich das tue«, erwiderte Holly, »wird mein Verstoß gegen den Dienstweg elektronisch registriert. Aber ich könnte Ihnen persönlich ein Exemplar vorbeibringen«, fuhr Holly fort, ehe Morgenthau die Stirn zu runzeln vermochte.
Zuerst erschien ein wissender Ausdruck in Morgenthaus teigigem Gesicht, und dann erschien ihr Grübchenlächeln: »Sehr gut, Holly. Das ist eine gute Idee. Bringen Sie mir die Ergebnisse. Ich bin in Dr. Eberlys Quartier.«
»Ich werde sofort da sein«, sagte Holly.
Holly hatte Eberlys Apartment kaum betreten, als sie auch schon die Spannung spürte, die in der Luft lag; der Raum war mit Emotionen schier geladen. Morgenthau, Vyborg und Kananga waren da: Holly bezeichnete sie insgeheim als das Nilpferd, die Schlange und den Panther, aber diese tierischen Attribute waren mitnichten humorvoll gemeint. Vor allem Kananga machte sie nervös mit seinem Blick — wie eine Raubkatze, die ihre Beute verfolgte.
Eberly war nirgends zu sehen, doch bevor Holly sich noch nach ihm zu erkundigen vermochte, betrat er den Raum und lächelte sie an. Die Spannung, die sie spürte, löste sich auf wie ein Morgennebel im warmen Sonnenlicht.
»Holly«, sagte er und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
»Mal…«, hob sie an und korrigierte sich dann. »Dr. Eberly. Ich freue mich, Sie wieder zu sehen.«
»Holly hat uns die Wahlergebnisse gebracht«, sagte Morgenthau.
»Schön«, erwiderte Eberly. »Das haben Sie gut gemacht, Holly.«
Holly zog den Palmtop aus der Tasche ihres Gewands und projizierte die Auszählungsergebnisse auf eine der kahlen Wände des Wohnzimmers. Sie sah, dass Malcolm überhaupt keine persönlichen Gegenstände im Apartment hatte. Es mutete genauso leer und kahl wie sein Büro an.
Dann studierten die fünf stundenlang die Wahlergebnisse und pflückten sie auseinander wie Pathologen, die einen Leichnam sezierten, um festzustellen, was die betreffende Person vom Leben zum Tode befördert hatte.