Kananga verschwand für eine Weile in der Küche und stellte dann zu Hollys Überraschung ein Tablett mit belegten Broten und Getränken auf die Arbeitsplatte, die die Küche vom Wohnzimmer trennte. Eberly verbiss sich förmlich in die Statistik und versuchte die Wahlergebnisse nach Alter, Beruf und Ausbildung zu analysieren. Er wollte bis hinunter zum einzelnen Wähler wissen, wer weshalb wofür gestimmt hatte.
Vyborg hing das aufgeknöpfte Gewand lose um die schmalen Schultern. Er rieb sich die Augen und nahm ein Sandwich vom Tablett.
»Die Wissenschaftler haben mehr oder weniger ›en bloc‹ abgestimmt«, sagte er und wedelte mit dem Sandwich in der Hand herum. »Das ist erstaunlich.«
»Wieso sind Sie erstaunt?«, fragte Morgenthau. Sie hatte ein Sandwich angebissen und es dann auf dem Kaffeetisch liegen lassen. Holly fragte sich, wie sie ihre Körperfülle bewahrte, wenn sie so wenig aß.
»Wissenschaftler sind Streithammel«, sagte Vyborg. »Sie streiten sich immer wegen irgendetwas.«
»Über wissenschaftliche Themen«, sagte Eberly. »Aber ihre Interessen sind andere. Sie haben ›en bloc‹ gewählt, weil sie alle die gleichen Interessen und Standpunkte haben.«
»Das könnte ein Problem werden«, sagte Kananga.
Eberly schaute wissend. »Glaube ich nicht. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«
Holly verfolgte fasziniert ihre Überlegungen und ließ den Blick von einem zum andern wandern, während sie die Wahlergebnisse mit chirurgischer Präzision analysierten. Sie wurde sich bewusst, dass Morgenthau die Umfrage so konzipiert hatte, dass sie auch Angaben zur Abteilung enthielt, in der der Wähler arbeitete und zur beruflichen Tätigkeit des Wählers. Wenn an der Wahl etwas geheim war, sagte Holly sich, dann waren es die Namen der Wähler. Im Übrigen enthielt jede Wahlurne genügend Informationen für eine detaillierte statistische Analyse.
»Wir werden ein Gegengewicht gegen sie brauchen«, sagte Vyborg mit vollem Mund.
»Gegen die Wissenschaftler?«, fragte Kananga.
»Ja«, sagte Eberly unwirsch. »Das ist bereits veranlasst worden.«
Morgenthau schaute Holly wieder mit diesem wissenden Blick an. »Was ist eigentlich mit Ihrem Bekannten, diesem Stuntman?«
Holly blinzelte überrascht. »Manny Gaeta?«
»Ja«, sagte Morgenthau. »Er hatte doch Probleme mit den Wissenschaftlern, oder?«
»Er will zur Titanoberfläche hinunter, aber sie wollen das erst erlauben, wenn…«
»Die Titanoberfläche?«, unterbrach Eberly sie. »Wieso gerade dorthin?«
»Er vollführt spektakuläre Stunts und verkauft dann die VR-Rechte an die Netze«, erläuterte Holly.
»Auf der Erde ist er äußerst populär«, führte Morgenthau aus. »Ein umjubelter Videostar.«
»Ein Stuntman«, sagte Vyborg spöttisch.
»Und er liegt mit den Wissenschaftlern im Clinch?«, fragte Eberly.
»Sie befürchten, dass er die Lebensformen auf dem Titan kontaminieren würde«, sagte Holly. »Dr. Cardenas versucht, ihm zu helfen…«
»Cardenas?«, fragte Vyborg schroff. »Die Nanotech-Expertin?«
»Richtig.«
»Wie gut kennen Sie diesen Stuntman eigentlich?«, fragte Eberly.
Holly verspürte einen Gewissensbiss. »Wir sind gute Freunde«, sagte sie schnell.
»Ich möchte ihn kennen lernen«, sagte Eberly. »Holly. arrangieren Sie es als einen gesellschaftlichen Anlass. Ich möchte mit Ihnen beiden zu Abend essen. Laden Sie Cardenas auch ein. Dann wären wir zu viert.«
Holly versuchte die Emotionen zu unterdrücken, die gegen sie anbrandeten. Mein Gott, sagte sie sich, nun komme ich endlich zu einem Abendessen mit Malcolm, aber ich soll ausgerechnet den Typen mitbringen, mit dem ich schlafe!
312 Tage bis zur Ankunft
Von den zwei Restaurants im Habitat war das ›Nemo‹ quasi das Szene-Restaurant. Wo das Bistro klein und ruhig war und die meisten Tische ohnehin auf die Wiese ausgelagert waren, protzte das ›Nemo‹ mit einem gediegenen Ambiente. Das im Stil eines Unterseeboots eingerichtete Restaurant hatte gewölbte kahle Metallwände und große Bullaugen, die spektakuläre holografische Unterwasserszenen zeigten. Der Inhaber, ein ehemaliger Restaurateur aus Singapur, der wegen seines öffentlich bekundeten Atheismus verurteilt worden war, hatte einen Großteil seines Privatvermögens ins Restaurant investiert. »Wenn ich schon den weiten Flug zum Saturn mache«, sagte er zu seinen versammelten Kindern, Enkelkindern und entfernteren Verwandten, »kann ich die Zeit auch sinnvoll nutzen.« Sie waren gar nicht froh darüber, dass das Familienoberhaupt die Erde verließ — und den Großteil ihres Erbes mitnahm.
Holly war ausgesprochen nervös, als sie dem Robotkellner zum Vierertisch folgte, der für sie reserviert war. Gaeta hatte ihr angeboten, sie bei sich zu Hause abzuholen, aber sie hielt es für besser, wenn sie sich erst im Restaurant trafen. Sie erschien als Erste am Treffpunkt, exakt um zwanzig Uhr. Der kompakte kleine Roboter blieb stehen und meldete: »Ihr Tisch, Miss.« Holly fragte sich, woher der Automat wusste, dass sie ein ›Fräulein‹ und keine ›Frau‹ war. Ob er die Daten der Erkennungsmarke ausgelesen hatte?
Sie setzte sich auf den Stuhl, von dem aus sie freien Blick auf den Eingang hatte. Das Restaurant war nicht einmal zur Hälfte besetzt.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte der Roboter. Die synthetische Stimme war warm und tief. »Wir haben eine ausgezeichnete Bar und eine umfangreiche Weinkarte.«
Holly wusste, dass das im besten Fall eine Übertreibung war. »Nein danke«, sagte sie. Der Roboter trollte sich.
Eberly erschien im Eingang, dicht gefolgt von Kris Cardenas. Sie trug ein knielanges geblümtes Sommerkleid aus einem leichten Stoff. Holly kam sich plötzlich schäbig vor in ihrem Gewand und den Leggins — der türkisfarbene Schal, den sie um die Hüfte geknotet hatte, riss das auch nicht heraus.
Sie stand auf, als die beiden näher kamen. Zuerst war keiner von beiden sich bewusst, dass sie denselben Tisch ansteuerten, doch dann fiel bei Eberly der Groschen, und er zog für Cardenas galant den Stuhl zurück. Als Holly die beiden einander vorstellte, hoffte sie inständig, dass Manny nicht kommen würde. Vielleicht ist er verhindert und führt einen Test durch oder so. Sie schenkte dem Gespräch zwischen Eberly und Cardenas kaum Aufmerksamkeit.
Dann erschien Gaeta doch. Er trug ein hautenges Netzhemd und Jeans. Keine Erkennungsmarke. Keinen Schmuck außer dem Ohrstecker. Er hatte es nicht nötig, sich herauszuputzen. Köpfe drehten sich, als er vor dem Robotkellner zu ihrem Tisch ging.
Vom flauen Gefühl im Magen abgesehen schien das Essen problemlos über die Bühne zu gehen. Gaeta kannte Cardenas natürlich, und Eberly erwies sich als ein charmanter Gastgeber. Die Konversation war ungezwungen, zumindest am Anfang: Sie sprachen über die kürzlich erfolgte Abstimmung und Gaetas Heldentaten.
»Durch die Wolken der Venus zu fliegen«, sagte Eberly bewundernd beim Aperitif. »Das muss großen Mut erfordert haben.«
Gaeta lächelte ihn beinahe scheu an. »Sie wissen doch, was man über Stuntmen so sagt: Mehr Glück als Verstand.«
Eberly lachte. »Trotzdem müssen viel Glück und Verstand dazugehören.«
Gaeta nickte zustimmend und widmete sich dem Krabben-Cocktail.
Als die Vorspeisen serviert wurden, drehte das Gespräch sich um Gaetas Absicht, auf die Oberfläche des Titan hinabzusteigen.
»Wenn Kris Urbain und seine Kontaminations-Spinner davon überzeugen kann, dass ich ihre chingado Bazillen schon nicht ausradieren werde«, nörgelte Gaeta.
Cardenas schaute ihn missbilligend an.
»Verzeihen Sie mein Französisch«, nuschelte er.
»Ich dachte, das sei Spanisch«, sagte Holly.
Eberly lenkte die Unterhaltung geschickt zu Urbain und seinen Wissenschaftlern zurück.