Morgenthau sorgte dafür, dass Eberly über die besonderen Interessen jeder Gruppe in Kenntnis gesetzt wurde. Die Maschinenführer beschwerten sich darüber, dass sie ohne triftigen Grund in eine niedrigere Lohngruppe eingestuft wurden als die Laboranten. Eine Gruppe von Farmern wollte die Anbaufläche vergrößern und tropische Früchte züchten, die Wilmots Abteilungsleiter verboten hatten: Weil sie nämlich mehr Wasser und ein großes Treibhaus benötigten, um ein wärmeres und feuchteres Klima als im übrigen Habitat zu schaffen. Und es herrschte eine tiefe Rivalität zwischen den Fans zweier Football-Teams, die wie auf der Erde die Weltmeisterschaft anstrebten. Der Konflikt drohte so ernst zu werden, dass selbst Kananga zur Mäßigung riet.
Und bei alledem war Holly Eberly eine unschätzbare Hilfe. Sie leitete die Abteilung Human Resources und versorgte Eberly getreulich mit den Statistiken, die er für die Analyse der unterschiedlichen Gruppendynamiken benötigte. Sie arbeitete fleißig und zuverlässig, ohne eine Ahnung zu haben, dass die Brüche in der sozialen Struktur des Habitats von Eberlys Clique systematisch vertieft wurden.
»Wir müssen irgendetwas tun, um die Leute wieder zusammenzubringen«, sagte sie Eberly immer wieder. »Wir müssen einen Weg finden, den Zusammenhalt wiederherzustellen.«
Wilmot beobachtete den wachsenden Unfrieden mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Die fein austarierte Gesellschaft, die eigens für dieses Habitat konstruiert worden war, zeigte erste Auflösungserscheinungen. Sie verlor den Zusammenhalt. Die Leute schlossen sich zu Stämmen und sogar zu Clans zusammen. Als Anthropologe war er von diesem Verhalten fasziniert. Als Leiter der Expedition befürchtete er jedoch, dass das zunehmende Chaos zu Gewalt, vielleicht sogar zu Mord und Totschlag führen würde. Dennoch widerstand er dem Drang, einzugreifen oder die Leute mit neuen Bestimmungen und Verordnungen zu knebeln. Lass das Experiment weiterlaufen, sagte er sich. Lass sie ihre kleinen Spiele spielen. Das Endergebnis wird mehr zählen als ein paar Menschenleben; letztlich könnte es sogar wichtiger sein als der Erfolg oder Misserfolg der Mission selbst.
»Sie müssen irgendetwas tun, Malcolm!«, drängte Holly Eberly schließlich. »Sie sind der Einzige, der eine Vision hat, wie man alle wieder zusammenbringt.«
Er ließ es geschehen, dass Morgenthau Hollys zunehmend dringlichere Bitten durch ähnliche Vorschläge ihrerseits ergänzte. Schließlich sagte er ihnen, sie sollten eine Veranstaltung organisieren.
»Ich werde zu ihnen sprechen und mein Bestes versuchen«, sagte er.
Holly arbeitete täglich sechzehn bis achtzehn Stunden, um eine Veranstaltung zu organisieren, die wirklich jeden im Habitat mobilisieren würde. Sie sollte im weitläufigen Park am See außerhalb des Dorfs A stattfinden. Sie sorgte dafür, dass die Cafeteria und beide Restaurants an jenem Tag um 18:00 Uhr schlossen; niemand würde etwas zu essen bekommen, bis Eberly seine Rede gehalten hatte.
Auf Morgenthaus Anregung hin organisierte Holly Paraden. Die Fan-Clubs waren gern bereit, mit Wimpeln in den Farben der jeweiligen Clubs einen Aufmarsch im Park zu veranstalten. Die Musiker stellten Bands zusammen und waren sogar damit einverstanden, ein Konzert zu geben, anstatt sich in einer Kakophonie zu überbieten. Die Farmer formierten sich auch zu einer Marschkolonne, der es jedoch völlig an Disziplin fehlte. Die anderen Arbeiter formierten sich ebenfalls nach Zünften.
Als die Musik dann spielte und die Leute marschierten, erschienen trotzdem nur ein paar Tausend Zuschauer. Der Großteil der Bevölkerung blieb zu Hause. Holly tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie die Veranstaltung im Fernsehen anschauten. Hoffte sie zumindest.
Dennoch bildeten ungefähr dreitausend Leute auch ein beachtliches Publikum. Eberly schaute froh, als sie sich vor der Orchestermuschel versammelten, auf deren Bühne er stand. Er verfolgte ihren Einmarsch und lächelte in die Runde.
Morgenthau schien auch erfreut. Holly hörte, wie sie Eberly etwas ins Ohr sagte: »Diese Minderheit ist groß genug, um uns die Macht zu verschaffen, die wir brauchen, Malcolm. Diejenigen, die zu Hause geblieben sind, werden von der Flut fortgerissen, wenn die Zeit kommt.«
Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einem altmodischen Picknick. Musik spielte. Leute marschierten ein und traten dann vor der Bühne der Orchestermuschel an, die sich an einem Ende des Parks befand.
Manuel Gaeta war der erste Sprecher. Morgenthau stellte ihn vor, und er erklomm unter dem Jubel und den Pfiffen der Menge langsam die Stufen zur Bühne.
Er sorgte mit einer Geste für Ruhe und schaute grinsend auf ein Meer erwartungsvoller Gesichter. »Ich bin kein begnadeter Redner«, hob er an. »Ich habe in meinem Leben schon viele Fährnisse gemeistert, aber ich glaube, dieser Auftritt ist die schwierigste Prüfung.«
Das trug ihm einen Lacherfolg ein.
»Im Grunde habe ich auch nicht viel zu sagen. Ich hoffe, dass es mir gelingt, auf die Oberfläche des Titan hinabzusteigen, und wenn ich das tue, mochte ich die Mission euch widmen, den Bewohnern dieses Habitats.«
Die Leute grölten beifällig. Holly saß neben Eberly an einer Seite der Bühne. Sie ließ den Blick über die Menge schweifen und hielt Ausschau nach den Gesichtern ihr bekannter Wissenschaftler. Sie machte nur ein paar aus. Weder Dr. Urbain noch Professor Wilmot befanden sich in der Menge.
»Meine eigentliche Aufgabe«,, fuhr Gaeta fort, »besteht darin, die Hauptperson des heutigen Abends vorzustellen. Ich glaube, ihr alle kennt ihn. Malcolm Eberly ist der Leiter der Abteilung Human Resources und der Einzige in der Führungsriege des Habitats, der bereit ist, mir zu helfen. Und ich glaube auch, dass er uns allen helfen kann.«
Gaeta drehte sich um und wies auf Eberly, der sich wie choreographiert vom Stuhl erhob und zum Podium ging. Der Beifall der Menge war spärlich.
»Danke, Manny«, sagte Eberly, beide Hände fest am Rednerpult. Er ließ den Blick über die Menge schweifen und sagte: »Und ich danke euch, jedem Einzelnen von euch, dass er heute Abend zu dieser Veranstaltung gekommen ist.«
Er holte Luft und senkte den Kopf — fast wie im Gebet. Die Menge verstummte und schaute erwartungsvoll.
»Wir stehen vor einer ungeheuer schwierigen Aufgabe«, sagte Eberly. »Wir müssen uns neuen und nie gekannten Gefahren stellen, während wir weiter in den unerforschten Raum vorstoßen als je ein Mensch vor uns.«
Holly war von seinem Tonfall beeindruckt. Sie sah, dass er auf der Bühne ein völlig anderer Mensch war: Die Augen blitzten, und die Stimme war so tief, sonor und kündete von einer solchen Selbstsicherheit, wie sie es noch nie bei ihm gehört hatte.
»Bald werden wir den Saturn erreichen. Bald wird unsere eigentliche Arbeit beginnen. Bevor wir jedoch anfangen können, haben wir die Pflicht, eine neue Ordnung und eine neue Gesellschaft zu erschaffen — und eine neue Regierung, die unsere Interessen vertritt und sich dafür einsetzt, dass alle unsere Ziele verwirklicht werden.
Der erste Schritt bei der Errichtung dieser neuen Ordnung ist die Namensgebung. Wir haben die Gelegenheit, ja sogar die Pflicht, die Namen auszuwählen, durch die unsere Gemeinschaft bekannt wird. Diese Aufgabe mag trivial erscheinen, aber das ist sie nicht. Sie ist von größter Bedeutung.
Doch was sehen wir allerorten? Statt Einigkeit herrscht Zwietracht. Statt klarer Vorgaben herrschen Verwirrung und Hader. Wir sind uneins und schwach, wo wir einig und stark sein müssten.«
Holly hörte mit zunehmender Faszination zu und spürte, wie sie in sein Geflecht aus Worten eingewickelt wurde. Das ist der Wahnsinn, sagte sie sich. Diese Tausende von Leuten fressen Malcolm förmlich aus der Hand.
»Wir sind die Auserwählten«, sagte er. »Wir wenigen, wir wenigen Auserwählten — wir, die durch menschliche Tatkraft und menschliche Würde im entferntesten Außenposten der Zivilisation Einzug halten werden. Wir, die wir mit dem Banner der Menschlichkeit gegen die kalten und feindlichen Kräfte der Natur antreten werden, wir, die wir dem ganzen Universum zeigen werden, dass wir einen sicheren Hafen für uns zu bauen und aus eigener Kraft ein Paradies zu schaffen vermögen.