Er will einfach nur nach Hause, erkannte Holly. Er will heim. Das Bewusstsein stimmte sie traurig, dass sie kein Zuhause hatte, zu dem sie zurückkehren konnte. Dies ist mein Zuhause, sagte sie sich. Dieses Habitat. Für immer.
266 Tage bis zur Ankunft
Wenn es schon getan werden muss, sagte Wilmot sich, dann sollte man es schnell hinter sich bringen.
Das war ein Diktum, das er in seiner langen akademischen Laufbahn schon oft zu seinem Vorteil beherzigt hatte. Oft verknüpfte er es auch mit einem von Churchills alten Aphorismen: Wenn man schon jemanden töten muss, kostet es nichts, höflich zu sein.
Also lud er Gaeta und Zeke Berkowitz in der Privatsphäre seines Apartments zum Abendessen ein. Berkowitz war natürlich ein alter Freund, und zu Wilmots Freude erschien er genau pünktlich — noch vor dem Stuntman.
Als Wilmot dem Nachrichtendirektor einen ordentlichen Whisky einschenkte, grinste Berkowitz ihn an und sagte launig: »Muss wohl eine ziemlich schlechte Nachricht sein, wenn der erste Drink schon so groß ausfällt.«
Wilmot lächelte leicht verlegen und reichte Berkowitz das Glas. »Du steckst noch immer die Nase überall rein, was, Zeke?«
Berkowitz zuckte die Achseln. »Ich wäre ein lausiger Nachrichtenmann, wenn ich nicht wüsste, was Sache ist.«
Wilmot schenkte sich ein noch volleres Glas ein.
»Es geht das Gerücht um«, sagte Berkowitz, der noch immer an der kleinen Bar des Apartments stand, »dass ich die Karriereleiter hinauffallen soll.«
»Leider ja«, bestätigte Wilmot mit einem knappen Nicken.
Bevor Berkowitz nachzuhaken vermochte, hörten sie ein Klopfen an der Tür. »Das wird Gaeta sein«, sagte Wilmot und ging zur Tür.
Gaeta trug ein Arbeitshemd aus Twill und Jeans — die formellste Kleidung, die er besaß. Der Stuntman schaute ernst, fast missmutig, als Wilmot ihn Berkowitz vorstellte und ihn fragte, was er trinken wollte.
»Bier, falls Sie welches haben«, sagte Gaeta mit unverändert ernster Miene.
»Wäre Ihnen Boss Ale recht?«, fragte Wilmot.
Nun musste Gaeta doch grinsen. »Das wäre mir sehr recht, danke.«
Wilmot bedeutete seinen beiden Gästen, in den Sesseln im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, sagte er zu Gaeta: »Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihnen Zeke als Vollzeit-Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit überstellen möchte.«
Berkowitz nickte wissend. Der Stuntman wirkte indes überrascht.
Als Wilmot das Tablett mit dem Abendessen an den Tisch trug, schienen die beiden Männer aber schon miteinander übereingekommen zu sein.
»Wenn Urbain oder die IAA oder wer auch immer mich daran hindern wollen, auf Titan zu landen, werde ich eben durch die Ringe fliegen«, sagte Gaeta.
Berkowitz beschrieb mit der Gabel eine spiralförmige Bewegung. »Durch die Ringe? Wahnsinn. Das wäre eine Sensation.«
»Glauben Sie, dass Sie mir etwas Sendezeit verschaffen könnten?«
»Selbst ein hirntoter Archivar wäre in der Lage, Ihnen dafür Sendezeit zu verschaffen. Ich meine, jeder hat die Aufnahmen der automatisierten Sonden gesehen, die zur Titan-Oberfläche hinuntergeschickt wurden. Faszinierende Bilder, gewiss, aber der Reiz des Neuen ist nun verflogen. Bei den Ringen ist aber noch niemand gewesen.«
»Es hat aber auch noch kein Mensch einen Fuß auf Titan gesetzt«, sagte Wilmot.
»Ich weiß. Aber die Ringe! Die Leute werden sich die Finger danach lecken. Ich könnte jetzt schon eine Auktion starten und genug Geld zusammenbekommen, um Ihre ganze Crew und noch ein paar Leute zu bezahlen.«
Gaeta lehnte sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck im Sessel zurück. Wilmot sah, dass Berkowitz so glücklich war wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Der Professor verspürte Erleichterung. Nun kann ich Eberly und dieser Kreatur Vyborg geben, was sie wollen, ohne irgend jemandes Gefühle zu verletzen. Eine Situation, von der beide Seiten profitieren. Umso besser. Pancho Lane spürte förmlich, wie ihr Gesicht sich zu einem Stirnrunzeln verzog, als sie Manuel Gaetas Mitteilung an sie las.
»Selbst wenn ich nicht zum Titan komme, sollte dieser Stunt zu den Ringen Sie für den Trip entschädigen — mit Zins und Zinseszins.«
Ja, aber was ist mit meiner Schwester, fragte Pancho sich stumm.
Gaeta schwadronierte über seine möglichen Stunts, während Pancho wutentbrannt am Schreibtisch saß. Was ist mit Susie, fragte sie sich. Ich meine natürlich Holly.
»Ihrer Schwester geht es gut, Ms. Lane«, sagte Gaeta schließlich. »Sie ist eine sehr aufgeweckte junge Frau. Sehr intelligent. Und noch dazu sehr attraktiv. Sie hat viele Freunde gewonnen und scheint sich hier sehr wohl zu fühlen. Sie brauchen sich keine Sorgen um sie zu machen.«
Bei seinem ›und noch dazu sehr attraktiv‹ wurde Pancho jedoch hellhörig. Gaeta eilte nämlich ein gewisser Ruf voraus. Ein stattlicher Kerl, das musste Pancho schon zugeben. Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen. Ob er es mit meiner Schwester treibt?
Pancho seufzte. Und wenn, könnte ich auch kaum etwas daran ändern. Ich hoffe nur, dass Susie es genießt. Und wehe, er verletzt sie. Falls er das tut, wird das sein letzter Stunt sein. Der allerletzte.
Professor Wilmot wippte leicht auf dem Bürostuhl und diktierte den Statusbericht für Atlanta.
»Es ist interessant, die unterschiedlichen Motivationen dieser Leute zu beobachten. Eberly scheint es weniger um Macht als um Verehrung zu gehen, so habe ich den Eindruck. Der Mann will vom Volk angebetet werden. Ich bin mir aber nicht sicher, was Vyborg will; bisher habe ich mich nicht zu überwinden vermocht, ihm persönlich gegenüberzutreten. Und Berkowitz ist froh, dass er der Verantwortung für die Leitung der Kommunikationsabteilung enthoben wurde. Er ist zu seinen Ursprüngen als aktiver Nachrichtenmann zurückgekehrt. Ich weiß zwar, dass es gewisse Reibungen zwischen ihm und Gaetas Technik-Crew gibt, aber das ist verständlich. Völlig normal.
Gaeta ist auf seine Art ein faszinierender Typ. Er will bei diesen Stunts, die er durchführt, wirklich sein Leben aufs Spiel setzen. Er genießt es geradezu. Das bringt ihm natürlich auch Geld und Ruhm ein, aber ich glaube, dass er es auch so tun würde — des bloßen Adrenalinstoßes wegen, den er dabei verspürt. Auf eine seltsame Art und Weise ist er wie ein Wissenschaftler. Nur dass Wissenschaftler den intellektuellen Triumph genießen, als Erster ein neues Phänomen entdeckt zu haben, während dieser Stuntman das sinnliche Erlebnis genießt, als Erster am Schauplatz zu sein.«
205 Tage bis zur Ankunft
Holly verbrachte die Nächte allein in ihrem Apartment und rief Programme über Gerichtsmedizin auf der Erde auf. Sie erinnerte sich mit brillanter Klarheit, wie Don Diegos verkrümmter Körper ausgesehen hatte, als sie ihn mit dem Kopf im Wasser im Bewässerungskanal entdeckt hatte. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit der Autopsie: Keine Herzattacke, kein tödlicher Schlaganfall, überhaupt nichts Ungewöhnliches außer dem Umstand, dass die Handballen etwas aufgeschürft zu sein schienen und die Lunge voll Wasser war.
Wodurch sind seine Hände aufgeraut worden, fragte Llolly sich und befand, dass es der Betonboden des Kanals gewesen sein musste. Dann suchte sie nach einem Grund, weshalb die Hände lädiert waren. Schließlich gelangte sie zum Schluss, dass er versucht hatte, den Kopf aus dem Wasser zu heben und sich bei diesem Versuch die Handballen aufgeschürft hatte.
Wieso hatte er dann aber nicht aufzustehen vermocht, wenn er es so angestrengt versucht hatte? Weil etwas — oder jemand — ihm den Kopf ins Wasser gedrückt hatte. Man hatte ihn ertränkt. Ermordet.
Nun wollte Holly sich nicht mehr nur auf ihr Gedächtnis verlassen, wenn es auch noch so gut war. Sie rief den Autopsiebericht auf und studierte ihn ein paar Nächte hintereinander. Keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung. Nur die Abschürfungen an den Händen.