Wilmot drehte sich um und bedeutete Urbain, aufs Podium zu kommen. »Dr. Urbain, welche Meinung vertreten Sie denn in dieser Sache?«
Urbain strich sich mit einer Hand das Haar zurück und sagte, ohne zu zögern: »Die Gefahr einer Kontaminierung der mikrobiellen Organismen auf dem Titan ist viel zu groß, um in absehbarer Zeit eine menschliche Erkundung dieser Welt zu erlauben. Zumal wir in dieser Angelegenheit ohnehin keine Wahl haben. Die IAA hat jede menschliche Intervention auf der Titanoberfläche untersagt.«
»Aber Dr. Cardenas hat Ihnen doch gezeigt, dass sie in der Lage ist, meinen Anzug zu reinigen.«
Wilmot wandte sich ans Publikum: »Mr. Gaeta meint damit die Arbeit von Dr. Kristin Cardenas. Sie hat Nanomaschinen entwickelt, die vielleicht in Lage sind, Mr. Gaetas Raumanzug zu dekontaminieren.«
»Die Dekontamination scheint ausreichend zu sein«, konzedierte Urbain, »aber der Schein trügt gelegentlich. Außerdem sollten wir nicht das Risiko eingehen, dass Nanomaschinen die Ökologie des Titan infizieren.«
Eberly schob Urbain mit sanfter Gewalt vom Podium weg und ließ den Blick übers Meer der Gesichter schweifen, die zu ihm aufschauten. »Dies ist ein gutes Beispiel dafür, weshalb wir es den Wissenschaftlern nicht erlauben dürfen, die Regierung zu kontrollieren. Wieso sollte man es diesem Mann verwehren, zu seinem Abenteuer aufzubrechen, wenn es doch erwiesen ist, dass er den Mikroben dort unten keinen Schaden zufügt?«
»Das ist überhaupt nicht erwiesen!«
»Dr. Cardenas sagt es aber«, widersprach Eberly.
»Aber nicht zu meiner Zufriedenheit«, sagte Urbain schroff.
»Ihre Zufriedenheit!«, rief Eberly. »In anderen Worten, Sie treffen die Entscheidung, und alle anderen haben sie gefälligst zu befolgen — sogar eine Nobelpreisträgerin wie Dr. Cardenas.«
»Dies ist eine Entscheidung, die ich zu treffen habe«, insistierte Urbain.
»Haben Sie denn nicht gesagt, dass der Internationale Astronauten-Verband die Entscheidung schon getroffen hätte?«
»Ja, das stimmt natürlich«, stammelte Urbain, »aber ich könnte diese Entscheidung umstoßen, wenn es nötig wäre. Schließlich bin ich hier der wissenschaftliche Leiter.«
»Sie wollen ein Diktator sein!«, rief Eberly mit gespieltem Entsetzen.
Wilmot ging dazwischen. »Warten Sie einen Moment. Es gibt da noch eine andere Frage. Was ist mit den Gefahren der Nanotechnik?«
»Nanotechnik ist ein Werkzeug«, sagte Urbain. »Ein Werkzeug, mit dem man sehr sorgfältig umgehen muss — aber trotzdem nicht mehr als ein Werkzeug.«
Das überraschte Eberly. »Ja, da stimme ich Ihnen zu.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Timoschenko stand von seinem Stuhl auf. »Warten Sie. Die Nanotechnik ist gefährlich. Die Nanobots könnten außer Kontrolle geraten…«
»Bullshit!«, schrie jemand im Publikum. Kris Cardenas sprang auf; sie war kreidebleich vor Zorn. »Nennen Sie mir auch nur ein Beispiel, wo Nanomaschinen außer Kontrolle geraten wären. In Selene und den anderen Mondsiedlungen werden schon seit Jahrzehnten Nanobots eingesetzt, ohne dass es Probleme gegeben hätte. Es hat sich kein einziger Zwischenfall ereignet.«
Timoschenko schaute sie grimmig an. »Als die Mondbasis noch nicht Selene hieß, haben Nanobots aber ein paar Leute getötet.«
»Das war vorsätzlicher Mord. Da könnten Sie genauso gut alle Hämmer verbieten, weil sie in der Vergangenheit dazu benutzt wurden, Menschen den Schädel einzuschlagen.«
Wilmot breitete in einer beschwichtigenden Geste die Hände aus. »Niemand will die Nanotechnik verbieten«, sagte er. »Dr. Cardenas ist die im ganzen Sonnensystem anerkannte Expertin auf diesem Gebiet, und wir haben uns mit dem Einsatz von Nanomaschinen einverstanden erklärt — unter Einhaltung strengster Sicherheitsvorschriften.«
Bevor einer der beiden anderen Kandidaten etwas zu sagen vermochte, schaltete Eberly sich ein. »Die Nanotechnik kann sehr nützlich für uns sein, und ich habe volles Vertrauen in Dr. Cardenas' Fähigkeit, Nanomaschinen sicher zu entwickeln.«
»Ich auch«, sagte Urbain.
Alle wandten sich Timoschenko zu. Er verzog das Gesicht und sagte dann: »Bei allem Respekt für die allseits bewunderte Dr. Cardenas glaube ich, dass Nanomaschinen in einer geschlossenen Umgebung wie der unseren eine große Gefahr darstellen. Sie sollten geächtet werden.«
Eberly nutzte die Gunst des Augenblicks. »Die meisten von uns sind wegen der Gesetze und Vorschriften, die uns in unserem früheren Leben gängelten, in diesem Habitat«, sagte er. »Die meisten von uns sind gut ausgebildet, haben ein großes Wissen und sind aufgeschlossen für neue Ideen und Entwicklungen. Wir haben alle unter Regierungen gelitten, die unsere Freiheit beeinträchtigten.«
Er sah, dass ein paar Leute zustimmend nickten.
»Nun gut«, wandte er sich ans Publikum, »wer von euch würde es befürworten, die Nanotechnik zu ächten?«
Die Leute zögerten und sahen sich an. Ein paar Hände gingen hoch. Aber nur wenige. Kris Cardenas schaute sich um, lächelte und setzte sich wieder.
Eberly nickte zufrieden. »Da haben Sie's«, sagte er an Timoschenko gewandt. »Vox populi, vox dei.«
20 Tage bis zur Ankunft
Holly erkannte, dass es keinen Sinn hatte, nach dem Ende der Debatte das Gespräch mit Malcolm so suchen. Er wurde sofort von Verehrern umschwärmt, einschließlich Morgenthau und diesem dunklen kleinen Mann, Vyborg.
Kris Cardenas bahnte sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht einen Weg durch die sich auflösende Menge. »Ich glaube, dass wir Sie vielleicht doch noch auf den Titan runterbringen können«, sagte sie zu Gaeta.
Er erwiderte ihr Grinsen. »Vielleicht. Falls Eberly die Wahl gewinnt.«
Holly fühlte sich plötzlich wie das fünfte Rad am Wagen, als sie zwischen Kris und Manny stand. Die Menge löste sich auf, und die Leute gingen in kleinen Gruppen aus drei oder vier Personen nach Hause oder in eins der Restaurants.
Eberly kam von einem Schwarm Gratulanten und Günstlingen begleitet die Bühne herunter. Als er an Holly vorbeiging, nickte er ihr lächelnd zu, lud sie aber nicht ein, sich der Gruppe anzuschließen.
»Komm schon, Holly, wir begleiten dich nach Hause«, sagte Gaeta, bevor sie sich wegen Eberlys Missachtung zu grämen vermochte.
Holly schaute Cardenas überrascht an. Die wölbte eine Braue, als ob sie Holly daran erinnern wollte, was sie über das Lotterleben des Stuntmans erfahren hatte.
Holly erwiderte das Nicken, und dann gingen die drei durchs Gras und den Pfad am Seeufer entlang auf Athen zu.
»Ich habe Nadia gar nicht gesehen«, sagte Cardenas, während sie die Steigung zum Apartmentgebäude erklommen.
»Sie ist vielleicht bei der Arbeit«, sagte Gaeta. »Urbain hat ihr nun doch Zeit am Teleskop gegeben; seitdem ist sie ständig oben im Observatorium.«
»Ich dachte, sie würde mit dir kommen«, sagte Holly.
»Mit mir?« Sein Erstaunen war echt.
Holly ließ es dabei bewenden. Sie erreichten Cardenas' Haus und verabschiedeten sich von ihr; dann ging Gaeta mit Holly zum Nebengebäude, wo ihr Apartment war.
»Du triffst dich in letzter Zeit oft mit Nadia, nicht wahr?«, fragte sie.
Gaeta nickte. »Falls dieser Titan-Stunt in die Hose geht, muss ich etwas tun, um die Investoren bei Laune zu halten. Sie ist mir dabei behilflich, den Sturzflug durch die Ringe zu planen.«
»Sicher.«
Schließlich dämmerte das Licht der Erkenntnis auf Gaetas Gesicht. »Oh«, sagte er. »Sie hat es dir gesagt, nicht wahr?«
»Ja, sie ist darauf zu sprechen gekommen«, erwiderte Holly kühl.
Sie erreichten den Eingang des Apartmentgebäudes. Als Gaeta dort stehen blieb, wechselte die Beleuchtung des Habitats gerade vom Abend- in den Nacht-Modus. Sein Gesicht wurde in Schatten getaucht, aber Holiy entging sein Unbehagen nicht.