Ruth Morgenthau wäre lieber ins Bett gegangen, aber sie hatte den Auftrag, Videos anzuschauen und aufgezeichnete Telefongespräche abzuhören. Eberly wollte unbedingt Ergebnisse sehen, und sie war entschlossen, das gesamte Material durchzugehen, das Vyborg über die Kommunikation von Professor Wilmot zusammengestellt hatte. Also setzte sie sich in ihren gemütlichen Liegesessel und widerstand dem Drang, ihn umzulegen und einzuschlafen. Ich habe schon zu viel auflaufen lassen, sagte sie sich. Ich muss den ganzen Kram abarbeiten, sonst nimmt es noch überhand.
Eigentlich könnte Vyborg das doch übernehmen, sagte sie sich, während die Zeit träge verstrich. Er hat schließlich die Wanzen angebracht, und seine Leute haben die Kameras in Wilmots Unterkunft und Büro installiert. Wieso wühlt er sich nicht durch diesen Mist? Aber sie wusste die Antwort schon: Falls Vyborg etwas fand, würde er sich bei Eberly profilieren. Morgenthau schüttelte gewichtig den Kopf. Nein, so geht das nicht. Wenn irgend jemand Wilmot zu Fall bringt, dann muss ich es sein. Eberly muss sehen, dass ich es getan habe. Kein anderer außer mir.
Sie machte sich Sorgen wegen Eberlys Engagement für ihre Sache. Ihm scheint es wichtiger zu sein, seine Eitelkeit zu pflegen, als sich für die Belange der Heiligen Jünger einzusetzen. Gewiss, er ist Amerikaner, und die sind schließlich alle narzisstische Individualisten, aber er unterliegt dennoch den Geboten ihrer Neuen Moralität.
Noch ein Grund, die Sache selbst zu erledigen, sagte sie sich. Wenn ich ihm etwas bringe, das er gegen Wilmot verwenden kann, wird Eberly sehen, dass er mich braucht. Vyborg und dieser Mörder Kananga sind zwar in mancherlei Hinsicht nützlich für ihn, aber ich muss ihm klar machen, dass er von mir abhängig ist. Ein Wort von mir könnte ihn ins Gefängnis zurückschicken, aber er behandelt mich wie eine seiner Untergebenen. Andrerseits ist er clever genug, um zu wissen, dass ich das niemals tun würde. Wenn ich ihn abschieße, würde das nämlich das Ende der ganzen Mission bedeuten. Dann würden Urbain oder dieser bärbeißige Russe zum Anführer des Habitats gewählt, und ich hätte auf der ganzen Linie versagt.
Eberly respektiert meine Fähigkeiten nicht. Er hält mich für faul und inkompetent. Nun gut, wenn ich ihm Wilmot ans Messer liefere, wird er seine Meinung über mich schon ändern müssen.
Morgenthau betete still um Hilfe und Erfolg. Lass mich etwas finden, das wir gegen Wilmot verwenden können, betete sie. Zum größeren Ruhme Gottes, lass mich einen Weg finden, den Professor in die Knie zu zwingen.
Erhört wurde ihr Flehen aber erst, nachdem sie Wilmot stundenlang an seinem Schreibtisch observiert, seine Telefongespräche belauscht und die Berichte gelesen hatte, bevor er sie verschlüsselt an die Erde sandte. Jeden Abend schaute der Professor sich stundenlang Videos an. Morgenthau spulte sie im schnellen Vorlauf vor. Sie vermochte sie aus der Perspektive der Kamera, die in der Decke von Wilmots Wohnzimmer installiert war, nicht klar zu sehen, und den Ton vermochte sie auch nicht zu hören, weil Wilmot sich nämlich einen Ohrhörer ins Ohr gestöpselt hatte. Stundenlang schaute er sich diese Videos an.
Und stundenlang sichtete Morgenthau die Videos auf der Suche nach etwas Greifbarem, Sündigem oder Illegalem oder auch nur Peinlichem — irgend etwas, mit dem man Professor Wilmot kompromittieren konnte.
Zu Tode gelangweilt und übermüdet gähnte Morgenthau und rieb sich die Augen unter den schweren Lidern. Ich kann nicht länger wach bleiben, sagte sie sich. Genug ist genug.
Sie schaltete den Monitor aus, der den noch immer gebannt auf seine Unterhaltungsvideos starrenden Wilmot zeigte, und wollte sich schon aus dem Liegesessel erheben. Dann fiel ihr jedoch ein, dass sie noch überprüfen musste, ob Wilmot irgendwelche Nachrichten vom Habitat zur Erde gesendet hatte. Sie wusste, dass er jede Woche einen verschlüsselten Report an irgendeine Stelle in Atlanta schickte. Mit einem kryptischen Inhalt — auch nachdem der Computer die Berichte entschlüsselt hatte. Es war schon seltsam, dass der Unbekannte, dem Wilmot berichtete, in derselben Stadt residierte wie das Hauptquartier der Neuen Moralität. Morgenthau tat das mit einem Achselzucken als bloßen Zufall ab.
Im Halbschlaf rief sie die Datei mit den versandten Nachrichten auf. Außer dem üblichen kurzen Bericht für Atlanta gab es diesmal eine noch kürzere Mitteilung an irgendeine Adresse in Kopenhagen. Und er hatte sie auch nicht über die übliche Funkverbindung gesandt, sondern über eine gebündelte Laserstrecke.
Plötzlich war Morgenthau wieder hellwach und wählte die gleiche Nummer in Kopenhagen an, um den Empfänger von Wilmots Botschaft ausfindig zu machen.
»Sie weiß Bescheid?«, fragte Vyborg entsetzt.
»Sie hat zumindest einen Verdacht«, erwiderte Eberly, der zwischen Vyborg und Kananga den gewundenen Pfad entlangging.
Für einen flüchtigen Beobachter schienen die drei Männer einen gemütlichen Spaziergang auf dem von Blumen gesäumten Pfad unterhalb von Athen zu machen. Spätmorgendliches Sonnenlicht strömte durch die Sonnenfenster des Habitats. Bienen summten zwischen den Hyazinthen und Stockrosen, und Schmetterlinge flatterten umher. Der kleine, dürre Vyborg ging leicht vornüber gebeugt und schaute grimmig wie jemand, der gerade etwas Ekliges verschluckt hatte. Selbst der große, majestätische Kananga auf Eberlys anderer Seite schaute etwas besorgt.
»Und sie hat Sie um Hilfe gebeten«, sagte Kananga.
Eberly nickte bedächtig. »Ich habe ihr angeboten, sie in Ihr Büro zu begleiten.«
»Nicht im Büro«, sagte Kananga. »Es gibt dort zu viele neugierige Augen. Wir werden uns an einem verschwiegenen Ort treffen müssen.«
»Und wo?«, fragte Eberly.
»Wie war's am Ort des Verbrechens?«, schlug Vyborg vor.
Kananga lächelte strahlend. »Perfekt.«
Eberly schaute von einem zum andern. Sie wollen mich in ihre kriminellen Machenschaften verstricken, wurde er sich bewusst. Sie wollen mich zum Komplizen bei einem weiteren Mord machen. Aber welche Alternative hätte ich? Wie kann ich mich da raushalten?
»Ich sage ihr, dass wir uns an dem Ort treffen werden, wo der alte Mann gestorben ist — aber ich werde selbst nicht dort erscheinen«, sagte er.
»Dafür werde ich da sein«, sagte Kananga.
»Sie muss aber auf Nimmerwiedersehen verschwinden«, sagte Eberly. »Für noch einen Toten wird uns keine plausible Ausrede mehr einfallen.«
»In einem so großen Habitat wie diesem muss es doch ein paar tausend Örtlichkeiten geben, wohin sie verschwunden sein kann«, sagte Vyborg.
»Ich will nicht, dass ihre Leiche gefunden wird«, wiederholte Eberly.
»Das wird sie auch nicht«, sagte Kananga. »Wozu gibt es schließlich Luftschleusen.« Er schaute an Eberly vorbei auf Vyborg. »Du wirst es doch schaffen, die AufZeichnungen der Luftschleusen-Überwachungskamera zu löschen, oder?«
Vyborg nickte. »Ich werde sie durch unverfängliches Bildmaterial ersetzen.«
»Gut«, sagte Kananga.
Eberly holte tief Luft. »Sehr gut. Wann soll es über die Bühne gehen?«
»Je eher, desto besser.«
»Also heute Nachmittag.«
»Vierzehnhundert Uhr«, schlug Kananga vor.
»Wir sollten es früher erledigen«, sagte Vyborg, »wenn die meisten Leute beim Mittagessen sind.«
»Ja«, pflichtete Kananga ihm bei. »Sagen wir zwölf- hundertdreißig.«
»Gut.«
Vyborg lächelte erleichtert.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Eberly.
»Aber es muss getan werden.«
»Ich weiß. Deshalb helfe ich euch ja.«
»Uns helfen?«, fragte Vyborg. »Was tun Sie denn schon, um uns zu helfen? Der Oberst hier tut, was getan werden muss. Sie sitzen doch nur in Ihrem Büro und verschaffen sich dadurch ein Alibi.«