Vier Tage bis zur Ankunft
Kontrollierter Wahnsinn, beschloss Eberly. Das ist es, kontrollierter Wahnsinn.
Gleich nach der Ernennung zum stellvertretenden Leiter des Habitats hatte Eberly die Wahlkampfzentrale aus seinem Apartment in ein leer stehendes Lagerhaus in Cairo verlegt. Es war groß genug, um die wachsende Anzahl von Wahlkampfhelfern und die noch schneller wachsende Zahl an Geräten und Kommunikationsausrüstung unterzubringen.
Er besuchte die Zentrale aber nur selten und zog es vor, sich vom Fußvolk fern zu halten. Je weniger sie mich zu sehen bekommen, sagte er sich, desto mehr werden sie meine seltenen Besuche bei ihnen zu schätzen wissen.
Am Abend vor dem Wahltag fand einer jener seltenen Besuche statt. Und wie zu erwarten war, wurde Eberly von den vielen Dutzend Wahlkampfhelfern umschwärmt, kaum, dass er durch die große Doppeltür des Lagerhauses gekommen war. Sie schauten ihn strahlend an, vor allem die Frauen.
Er ließ sich zwischen den provisorischen Arbeitsbänken herumführen und schüttelte jedem einzelnen Wahlkampfhelfer die Hand. Dazu setzte er sein liebenswürdigstes Lächeln auf. Er versicherte ihnen, dass die bevorstehende Wahl ein überragender Triumph für sie wäre. Sie erwiderten sein Lächeln und pflichteten ihm bei, dass ›wir nicht verlieren können‹ und zeigten sich zuversichtlich, ›dass Sie morgen um diese Zeit der erste Mann im Habitat sind‹.
Schließlich löste Eberly sich aus der Menge und wurde von Morgenthau ins kleine Privatbüro geleitet, das in einer entlegenen Ecke des Lagerhauses abgeteilt worden war. Er hatte verlangt, das Büro mit massiven Wänden zu umgeben, die bis zur Decke reichten und nicht nur mit schulterhohen Trennwänden. Außerdem sollten die Wände schalldicht sein.
Vyborg saß im Büro am Schreibtisch, als Morgenthau die Tür hinter Eberly schloss; Kananga saß auf dem Stuhl vor einer Bank mit Rechnerkonsolen. Beide Männer erhoben sich.
»Es läuft gut«, sagte Vyborg, als Eberly zum Schreibtisch ging.
»Na toll«, sagte er schroff. »Was ist mit Holly? Habt ihr sie schon gefunden?«
»Noch nicht«, erwiderte Kananga.
»Die Suche läuft nun schon seit zwei Wochen!«
»Das Habitat ist sehr groß, und mir steht nur eine begrenzte Anzahl von Leuten zur Verfügung.«
»Ich will, dass sie gefasst wird.«
»Das wird sie auch. Ich lasse alle Orte überwachen, an denen sie sich Nahrung beschaffen könnte. Wir werden sie früher oder später finden.«
»Sie muss getötet werden«, sagte Vyborg.
Eberly runzelte bei diesen Worten die Stirn und sagte sich: Sie geben sich zwar alle als Gläubige aus, aber sie reden über Mord, als sei das ein Kavaliersdelikt. Und mich wollen sie zum Komplizen bei ihren Verbrechen machen. Dann haben sie mich erst richtig in der Hand.
»Was, wenn sie sich an einem öffentlichen Ort stellt?«, fragte Morgenthau. »Sie ist vielleicht schlau genug, in der Mittagszeit in der Cafeteria aufzutauchen und sich freiwillig zu stellen.«
Eberly schauderte bei dieser Vorstellung. »Wenn sie redet, ist vielleicht alles verloren, wofür wir gearbeitet haben.«
»Aber sie ist doch neutralisiert«, wandte Vyborg ein.
»Ich habe dafür gesorgt, dass jeder sie für eine gefährliche Irre hält.«
Eberly schüttelte den Kopf und sagte: »Egal, was die Leute glauben — wenn sie beschließt, in der Öffentlichkeit auszupacken, könnte sich das negativ auf das Wahlergebnis auswirken. Vielleicht würde Urbain dann die Wahl gewinnen oder sogar Timoschenko.«
»Dann ist heute Abend also die kritische Zeit«, sagte Morgenthau. »Morgen um diese Zeit ist die Wahl bereits gelaufen.«
»Ich will, dass sie noch heute gefunden wird.«
»Es wäre gut«, sagte Vyborg fast im Flüsterton, »wenn sie tot aufgefunden würde.«
Kananga nickte. »Ich werde den ganzen Sicherheitsdienst auf sie ansetzen.«
»Hat sie irgendwelche Verbündete?«, fragte Eberly. »Irgendwelche Freunde, die sie um Hilfe bitten könnte?«
»Sie hat Dr. Cardenas angerufen«, sagte Vyborg.
»Das war aber schon vor zwei Wochen«, sagte Morgenthau.
»Und auch nur einmal«, ergänzte Kananga. »Der Anruf war allerdings zu kurz, als dass wir sie zu orten vermocht hätten.«
»Cardenas?« Eberly wusste plötzlich, wie sie Holly kriegen würden. »Sie hat die Nanotech-Expertin angerufen?«
»Ja.«
Morgenthau sah das Funkeln in seinen Augen. »Glauben Sie…?«
»Eine Nanobot-Bedrohung«, sagte Eberly. »Lancieren Sie die Nachricht, dass Holly vielleicht gefährliche Nano-Maschinen besitzt«, befahl er Vyborg. »Stellen Sie es so dar, als ob sie eine Bedrohung für das gesamte Habitat sei. Eine Nano-Seuche! Dann wird jedermann im Habitat nach ihr Ausschau halten. Kananga, es werden sage und schreibe zehntausend Leute nach ihr suchen!«
Der Ruander lachte erfreut. Vyborg nickte und schlurfte zum Kommunikationsgerät auf dem Schreibtisch. Während er ein Nachrichtenbulletin diktierte, wandte Eberly sich an Morgenthau.
»So viel zu unserer Flüchtigen. Wie lauten die aktuellen Wahlkampfprognosen?«
Er erwartete, dass sie ihm eine rosige Prognose für die Wahl stellte. Stattdessen verflog ihr Lächeln, und ihr pausbäckiges Gesicht wurde von Zweifel verdüstert.
»Mit diesem Ingenieur, Timoschenko, haben wir vielleicht ein Frankenstein-Monster erschaffen«, sagte Morgenthau und drehte sich zur Computerbank um.
Sie rief die aktuellen Vorhersagen auf, und eine bunte Grafik erschien an der kahlen Bürowand.
»Die blaue Kurve markiert Ihre aktuellen Umfragewerte«, sagte Morgenthau, »die rote Urbains und die gelbe die von Timoschenko.«
»Wir liegen doch klar in Führung«, sagte Eberly.
»Ja, aber es gibt einen Besorgnis erregenden Trend.« Die Grafik veränderte sich, wobei die Kurven abflachten beziehungsweise anstiegen. »Falls Timoschenkos Leute für Urbain stimmen, könnte er Sie schlagen.«
»Wieso sollten sie das tun?«
Morgenthau zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wieso, aber es geschieht. Urbain hat schon fast zwanzig Prozent der Wähler gewonnen, die noch vor ein paar Tagen fest in Timoschenkos Lager standen.«
»Nach Ihren Analysen«, sagte Eberly.
»Die auf umfangreichen Meinungsumfragen basieren, die unsere Wahlkampfhelfer durchgeführt haben.« Sie deutete auf die Tür. »Vielleicht sehe ich auch nur zu schwarz, aber es wäre durchaus möglich, dass Urbain Timoschenko so viele Stimmen abnimmt, dass er morgen gewinnt.«
Eberly starrte auf die Grafik, als ob er in der Lage wäre, die Zahlen durch schiere Willenskraft zu ändern. Er ließ sich äußerlich nichts anmerken und versuchte den Zorn zu verbergen, der ihn aufwühlte. Ich könnte verlieren! Und wo wäre ich dann? Man würde mich wieder ins Gefängnis werfen, sagte er sich erschrocken.
Er hörte kaum Morgenthaus Stimme. »Blasen Sie die Wahl ab. Sie sind nun der stellvertretende Leiter des Habitats. Wilmot ist ausgeschaltet. Brechen Sie die Wahl ab und ermächtigen Sie sich selbst zur Regierungsbildung.«
»Soll ich vielleicht drei Viertel der Population gegen mich aufbringen?«, knurrte Eberly sie an.
»In diesem Fall«, sagte Kananga, »hätten Sie doch den perfekten Anlass, um das Kriegsrecht zu verhängen.«
»Dann hätten wir alles unter Kontrolle«, pflichtete Morgenthau ihm bei. »Ich habe mir die Pläne für Neuronalsonden von der Erde schicken lassen. Nach der Verhängung des Kriegsrechts könnten wir die Störenfriede verhaften und ihnen die Kontrollsonden implantieren. Das war doch von Anfang an unser Ziel.«
Nur dass die Leute mich dann hassen würden, sagte Eberly sich. Sie würden sich gegen mich verschwören. Ihr ganzes Sinnen und Trachten wäre darauf gerichtet, mich zu stürzen.