»Nein«, sagte er. »Ich will diese Leute nicht mit Gewalt regieren oder sie in willenlose Zombies verwandeln.«
»Sie brauchten auch gar keine neuronalen Implantate«, sagte Kananga und richte sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich würde schon dafür sorgen, dass sie Ihnen gehorchen.«
Und mich von dir abhängig machen, antwortete Eberly stumm. Ich will, dass diese Leute mich respektieren, dass sie mir aus Bewunderung und Respekt folgen. Sie sollen mich so lieben, wie diese Wahlkampfhelfer mich lieben.
»Nein«, wiederholte er. »Ich muss diese Wahl legal gewinnen. Ich will, dass die Leute mich frei wählen. Sonst würde es nichts als Unruhe und Widerstand gegen meine Herrschaft geben.«
Morgenthau wirkte ernsthaft besorgt. »Wenn Sie die Wahl aber verlieren? Was dann?«
»Ich werde sie nicht verlieren.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Die Veranstaltung heute Abend. Ich werde sie auf meine Seite ziehen. Ich werde Timoschenkos Unterstützer von Urbain auf meine Seite ziehen.«
»Und wie?«
»Das werden Sie schon sehen.«
Obwohl die Furcht ihr ständiger Begleiter war, genoss Holly das Exil fast. Es ist wie ein Campingurlaub, sagte sie sich. Nicht dass sie sich von ihrem ersten Leben auf der Erde an Camping zu erinnern vermochte. Und doch fühlte sie sich seltsam frei, losgelöst von allen Menschen und allen Pflichten. Sie konnte tun, wozu sie gerade Lust hatte. Sie wusste, dass es viele Freiflächen an der Oberseite des Habitats gab; zwei ganze Dörfer waren für eine wachsende Bevölkerung reserviert worden. Und wenn sie es überdrüssig wurde, durch die Tunnels zu streifen, konnte sie immer zu den Gärten und Farmen hinaufsteigen und auf dem weichen, warmen Boden ungestört schlafen.
Soweit sie es zu sagen vermochte, wurde sie von niemandem beobachtet und auch von niemandem verfolgt. Sie hatte aus dem Vorratsraum der Cafeteria diesen einen Anruf an Kris getätigt, und erwartungsgemäß hatte innerhalb weniger Minuten ein Trupp von Kanangas Sicherheitsleuten die Örtlichkeit gestürmt. Holly hatte sie unter der fast geschlossenen Falltür im hinteren Bereich des Vorratsraums beobachtet. Flachländer, sagte sie sich. Die Vorstellung liegt ihnen völlig fern, dass jemand unter der Erde leben könnte. Und es gibt hier unten eine Million Tunnelkilometer, sagte sie sich. Sie würden mich auch in ein paar Jahren nicht finden.
Doch das Bewusstsein, dass Kananga Don Diego ermordet hatte, steckte in ihrem Bewusstsein wie kalter Stahl. Und Malcolm ist auch irgendwie darin verwickelt. Sie wusste zwar nicht, wie und weshalb, aber sie wusste, dass sie weder Malcolm noch sonst jemandem trauen durfte. Nun ja, Kris kannst du schon noch trauen, sagte sie sich. Aber ich würde Kris damit nur in Schwierigkeiten bringen. Sie haben Don Diego ermordet, und Kananga hat versucht, mich zu töten. Ob sie auch versuchen würden, Kris zu ermorden, wenn sie glauben, dass sie mir hilft? Ganz bestimmt, sagte sie sich.
Während die Tage vergingen, wurde Holly sich jedoch bewusst, dass sie auf diese Art nichts erreichte. Okay, es war ganz lustig, sich in den Tunnels zu verstecken und von den Farmen zu leben und so. Aber wie lang willst du noch so weitermachen? Du darfst sie damit nicht davonkommen lassen, sagte sie sich. Und die Wahl steht kurz bevor. Wenn Malcolm erst einmal zum Leiter des Habitats gewählt wurde, werden die Dinge sich eher noch zum Schlechteren als zum Besseren wenden.
Du musst sie irgendwie festnageln, sagte sie sich. Kananga, diese Vettel Morgenthau und die kleine Schlange Vyborg. Ja, und auch Malcolm. Aber wie? Du schaffst das nicht allein. Du brauchst jemanden… aber wen?
Und dann kam ihr die Erleuchtung. Natürlich! Professor Wilmot. Er ist der Leiter des Habitats. Jedenfalls, bis die Wahl vorbei ist. Wenn ich ihm sage, was hier läuft, wird er schon wissen, was zu tun ist.
Meine Güte, sagte sie sich. Die Wahl ist schon morgen! Ich muss den Professor heute noch aufsuchen.
Planungssitzung
Gaeta wurde auf der einen Seite von Kris Cardenas und auf der anderen von Fritz von Helmholtz flankiert. Berkowitz saß links neben Fritz. Nadia Wunderly stand vor ihnen und hantierte mit einem Laserpointer. Wir hätten Schutzbrillen anlegen sollen, sagte Gaeta sich. Sie wird noch jemandem mit diesem Ding die Augen ausbrennen, wenn sie nicht aufpasst.
Wunderly hielt es vor Aufregung kaum am Boden.
»Dies ist die Echtzeit-Position der Eiskugel«, sagte sie und zeigte mit dem Laser auf den Computerbildschirm. »Genau auf dem richtigen Kurs fürs Eingefangenwerden.«
Gaeta sah Saturn träge in der dunklen Unendlichkeit des Raums treiben, bekränzt von den glänzenden Ringen. Ein grünes Oval markierte die aktuelle Position des Habitats, das eine Umlaufbahn außerhalb der Ringe ansteuerte. Das rote Pünktchen des Laserpointers war auf einen Lichtfleck fokussiert, der noch weiter vom Planeten entfernt war als das Habitat.
»Folgendes wird sich innerhalb der nächsten vier Tage ereignen«, sagte Wunderly.
Sie sahen, dass das Habitat wie geplant langsam in eine Umlaufbahn ging. Die Eiskugel flog am Planeten vorbei und verschwand fast aus dem Bild, wurde dann aber durch die Gravitation des Saturn zurückgeholt. Die Eiskugel flog erneut dicht an den Ringen vorbei und verschwand hinter dem Planeten. Dann wurde sie erneut angezogen und flog in einer noch engeren Kurve an ihm vorbei.
»Nun geht's los«, sagte Wunderly atemlos.
Die Eiskugel drang von oben in den breiten, hellen B-Ring ein, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein und umkreiste erneut den mächtigen Körper des Planeten. Als sie wieder auftauchte, war sie schon deutlich langsamer. Gaeta sah, wie sie erneut in den B-Ring eintauchte — so sanft wie eine Ente, die auf einem Teich landet.
»Und nun kommt's«, sagte Wunderly und schaltete auf Standbild. »Saturn bekommt mitten im B-Ring einen neuen Mond. Das ist ein bisher einmaliger Anblick.«
»Wow«, stieß Berkowitz hervor. »Jedes Netzwerk wird das Einfangereignis übertragen wollen.« Er beugte sich an Fritz vorbei und sagte zu Gaeta: »Was für eine Kulisse für Ihren Stunt!«
Gaeta grinste breit.
»Wie wird sich das auf die Ringe auswirken?«, fragte Cardenas.
Wunderly zuckte die Achseln. »Der Himmelskörper ist zu klein, um größere Auswirkungen zu haben. Er hat nur einen Durchmesser von acht Kilometern. Ein Winzling.«
»Aber er wird die Partikel im Ring doch ganz schön durcheinander wirbeln, oder?«, fragte Fritz.
Sie nickte. »Ja schon, aber es wird die Ring-Dynamik nicht wesentlich beeinflussen. Es werden keine Änderungen in der Cassini-Teilung oder etwas Derartiges auftreten. Ich habe die Simulationen durchgeführt; stärkere Effekte werden nur räumlich begrenzt auftreten.«
»Dann wollen wir also dort sein, wenn es geschieht«, sagte Gaeta.
»Nein!«, sagten Wunderly und Cardenas im Chor.
»Das wäre zu gefährlich«, ergänzte Cardenas.
»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Wunderly. »Du solltest ein paar Tage warten, bis sich alles wieder beruhigt hat.«
»Es kann nichts schaden, ein wenig zu warten«, stimmte Berkowitz zu. »Aber nicht länger als zwei Tage. Wir wollen die Sache durchziehen, solange Saturn und die Ringe noch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen.«
Gaeta schaute auf Fritz, der intensiv die vor ihnen hängende dreidimensionale Abbildung studierte.
»Was meinst du, Fritz?«
»Es wäre gefährlich, aber noch im Rahmen unserer Möglichkeiten. Der Anzug müsste es jedenfalls aushalten. Und es würde uns spektakuläre Aufnahmen bescheren.«
Wunderly sagte: »Ich glaube nicht…«
»Wäre es denn nicht eine Hilfe für dich«, unterbrach Gaeta sie, »Echtzeit-Aufnahmen vom Einfangen innerhalb des Rings zu bekommen?«
»Ich schaffe das auch mit ein paar ferngesteuerten Kameras«, sagte sie. »Ihr braucht nicht für die Wissenschaft das Leben aufs Spiel zu setzen.«