»Wir werden keine Schwierigkeiten haben, einen Platz zu finden«, murmelte Cardenas.
Gaeta erhob sich aus dem Armstuhl und setzte sich neben Cardenas auf das Sofa. Sie schauten sich auf Tuchfühlung das Video an. Trotz ihrer Verliebtheit sagte Cardenas sich, dass Gaeta in einer, spätestens in zwei Wochen seine Sachen packen und sich anschicken würde, das Habitat zu verlassen. Sein Ionentriebwerks-Schiff war bestimmt schon auf dem Weg hierher, sagte sie sich. Soll ich mit ihm gehen? Würde er das überhaupt wollen?
Das Telefon klingelte. Cardenas rief die Botschaft auf den Monitor auf. Es war das Dossier von Susan Lane aus den Akten des Hauptquartiers der Neuen Moralität in Atlanta.
»Sie haben die falsche Lane erwischt«, sagte Gaeta.
Doch dann erschien das unverkennbare Konterfei von Holly.
»Sie muss ihren Namen geändert haben«, sagte Cardenas.
»Ist das etwa ein Zeichen für Instabilität?«
Sie lasen das Dossier durch und ließen jedes Wort und jede Statistik auf sich wirken.
»Geistige und emotionale Probleme werden aber nicht erwähnt«, sagte Gaeta.
»Auch keine Medikation.«
»Die Hundesöhne haben ihr Dossier gefälscht. Sie wollen sie verladen.«
Cardenas speicherte die gesamte Datei in ihrem Palmtop ab. Dann sprang sie auf.
»Wir werden zur Versammlung gehen und Eberly damit konfrontieren«, sagte sie.
»In Ordnung«, sagte Gaeta.
Als er jedoch die Eingangstür aufschob, standen vier stämmige Männer und Frauen in den pechschwarzen Gewändern des Sicherheitsdienstes im Gang. Sie hatten kurze schwarze Knüppel am Koppelgürtel hängen.
»Oberst Kananga möchte mit Ihnen sprechen«, sagte eine der Frauen, die die Anführerin zu sein schien. »Nach der Versammlung. Er bittet Sie hier zu bleiben, bis er zu Ihnen kommt.«
Wortlos schob Cardenas die Tür zu und ging zum Sofa zurück.
»Sie müssen über alles Bescheid wissen«, sagte Gaeta.
»Sie haben das Apartment verwanzt«, sagte Cardenas und ließ sich wieder aufs Sofa fallen. »Sie hören jedes Wort, das wir sagen. Und sie wissen jetzt auch über Hollys Dossier aus Atlanta Bescheid.«
»Dann wissen sie auch, dass Tavalera in den Tunnels nach ihr sucht«, sagte Gaeta mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht.
Die letzte Wahlkampfveranstaltung
Inmitten der sie umschwärmenden Leute war ein Gespräch kaum möglich. Eberly und Morgenthau gingen nebeneinander den Pfad entlang, der zum Veranstaltungsort am See führte. Vyborg war dicht hinter ihnen, und Kananga und zwei seiner kräftigsten Männer gingen voran und bahnten ihnen einen Weg durch die dichte Menschenmenge, die den Pfad säumte. Die Leute riefen, lächelten und versuchten Eberly die Hand zu schütteln, ihn zu berühren und ein Lächeln von ihm zu erhaschen.
Er hätte ihnen gern die Hände geschüttelt, ihnen ein Lächeln geschenkt und sich in ihrer Verehrung gesonnt. Stattdessen ignorierte er sie, während er mit Morgenthau sprach.
»Sie ist in den Tunnels?«, rief er übers Stimmengewirr der Menge.
Morgenthau nickte und schnaufte, obwohl sie in der Menge kaum schneller als im Schneckentempo vorankamen.
»Cardenas' Assistent sucht in den Tunnels nach ihr«, schrie sie Eberly ins Ohr.
»Ich hoffe nur, dass er mehr Erfolg hat als Kanangas Affen.«
»Was?«
»Nichts«, sagte er lauter. »Schon gut.«
»Wir haben Cardenas und den Stuntman unter Hausarrest gestellt. Sie haben Hollys ursprüngliches Dossier.«
Das ließ bei Eberly die Alarmglocken schrillen. »Wie sind sie denn daran gekommen?«
»Sie haben es aus Atlanta. Die Neue Moralität hat anscheinend über jeden an Bord des Habitats ein Dossier angelegt.«
»Ich hätte diese Datei auch frisieren sollen«, sagte Eberly und rang frustriert die Hände.
»Dafür ist es nun zu spät.«
»Die Sache läuft allmählich aus dem Ruder. Wir können Gaeta und Cardenas nicht einsperren. Ich habe Gaetas Stunt schließlich als Wahlkampf-Höhepunkt gepusht.«
»Vyborg hielt es fürs Beste, sie bis zu der Wahl morgen Abend aus dem Verkehr zu ziehen.«
Eberly schaute über die Schulter. Vyborg. Dieser griesgrämige kleine Troll ist die Ursache des ganzen Ärgers, sagte er sich. Wenn ich erst einmal fest im Sattel sitze, werde ich mich seiner entledigen. Aber die kleine Schlange weiß zu viel über mich, sagte er sich dann. Die einzige Art, ihn loszuwerden, ist, ihn für immer zum Schweigen zu bringen.
Eine Blaskapelle kam mit Umptata-umptata auf sie zu, nahm die kleine Gruppe in die Mitte und eskortierte sie zur Rednertribüne. Es waren Amateurmusiker, die mit Spielfreude wettmachten, was ihnen an Talent fehlte. Sie tröteten so laut, dass Eberly keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte.
Urbain und Timoschenko saßen bereits auf der Bühne, wie er beim Näherkommen sah. Die Menge jubelte laut und hatte sich schon fast in Ekstase gesteigert. Wilmot war nirgends zu sehen. Gut. Er bleibt in seiner Unterkunft, wie ich es befohlen habe. Ich will, dass diese Leute mich als ihren Anführer betrachten und niemanden sonst.
Er erklomm die Stufen und nahm auf dem Stuhl zwischen Timoschenko und Urbain Platz. Die vielen kleinen Bands vereinigten sich vor der Bühne zu einem großen Orchester und boten eine schwache Interpretation von Now Let Us Fraise Famous Men dar. Eberly fragte sich, wie die Frauen des Habitats diesen sexistischen Affront wohl aufnahmen. Die Band war aber so schlecht, dass es darauf auch nicht mehr ankam, sagte er sich.
Schließlich verstummte die Katzenmusik, und die Menge fiel in ein erwartungsvolles Schweigen. Eberly sah, dass dreitausend Bewohner des Habitats im Gras standen und ihn anschauten. Es war die größte Wahlkampfveranstaltung bisher, und doch war Eberly enttäuscht und fühlte sich zurückgesetzt. Siebzig Prozent der Bevölkerung ist die Wahl so egal, dass sie nicht zur Veranstaltung erschienen sind. Siebzig Prozent! Sie sitzen zu Hause, legen die Hände in den Schoß und beschweren sich dann aber, wenn die Regierung Dinge tut, die ihnen nicht behagen. Die Narren verdienen, was auch immer sie bekommen.
Die Leute setzten sich auf die Stühle, die für sie aufgestellt worden waren. Eberly sah, dass viele Stühle leer blieben. Ehe das Publikum wieder unruhig wurde, erhob er sich langsam und trat ans Podium.
»Die Sache ist mir irgendwie peinlich«, sagte er, während er das Mikrofon am Gewand befestigte. »Professor Wilmot kann heute Abend nämlich nicht bei uns sein und hat mich deshalb gebeten, an seiner Stelle als Moderator zu fungieren.«
»Das muss dir doch nicht peinlich sein!«, ertönte eine Frauenstimme irgendwo in der Menge.
Eberly schaute mit einem strahlenden Lächeln in ihre ungefähre Richtung und fuhr fort: »Wie Sie vielleicht schon wissen, wollen wir Sie heute Abend nicht mit langatmigen Ausführungen langweilen. Jeder Kandidat wird ein kurzes, fünfminütiges Statement abgeben, das seine Position in Bezug auf die wichtigsten Themen zusammenfasst. Nach diesen Statements werden Sie dann Gelegenheit haben, den Kandidaten Fragen zu stellen.«
Er hielt für eine Sekunde inne und fuhr dann fort: »Die Reihenfolge der Redner für diesen Abend wurde ausgelost, und ich darf anfangen. Allerdings glaube ich, dass es zu viel des Guten wäre, wenn ich der Moderator und der erste Redner wäre; also werde ich die Reihenfolge, in der die Kandidaten ihre Statements abgeben, ändern und als Letzter sprechen.«
Es herrschte Totenstille im Publikum. Eberly drehte sich leicht zu Urbain um und dann wieder zur Menge. »Unser erster Redner wird deshalb Dr. Edouard Urbain sein, unser Chef-Wissenschaftler. Dr. Urbain hat eine eindrucksvolle Karriere…« Holly schaute im Tunnel die Übertragung der Veranstaltung an. Professor Wilmot ist nicht da, sagte sie sich. Ich frage mich, wieso.