"Das überlaß nur mir. Für jetzt bist Du bei mir in Sicherheit. Ich übergebe Dir ein Zimmer, welches kein Mensch betreten darf als der Lehrling, der Dich bedienen wird. Er ist treu und verschwiegen. Das Übrige wird sich später finden."
Elftes Kapitel. Paroli.
Es war am Abende. Ein feiner, dichter Regen fiel vom Himmel nieder, so daß auf den Straßen der Residenz nur Diejenigen verkehrten, welche die Nothwendigkeit aus ihren Wohnungen trieb. Der Posten, welcher vor dem Polizeigebäude auf und ab patrouillirte, hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt und murmelte zuweilen ein zorniges Kraftwort über das unfreundliche Wetter, dem er sich in Folge seiner dienstlichen Obliegenheiten preisgeben mußte.
Ein hochgewachsener Mann, der einen weiten Gummirock mit Kapuze trug, kam die Straße heraufgeschritten und trat durch das Portal in das Gebäude. Der diensthabende Polizist im Flure desselben trat ihm einen Schritt entgegen.
"Was wünschen Sie?"
"Ist der Inspektor zu Hause?"
"Der Herr Inspektor, wollen Sie wohl sagen! Er ist zwar da, aber nicht mehr zu sprechen." Statt aller Antwort drehte sich der Mann um und schritt auf die Treppe zu. Der Polizist eilte ihm nach und faßte ihn am Arme.
"Ich sagte, daß der Herr Inspektor nicht zu sprechen sei." Der Andere schlug jetzt die Kapuze zurück und frug: "Kennen Sie mich?"
Der Beamte trat erschrocken einen Schritt zurück.
"Durchlaucht Excellenz! Verzeihung, ich konnte Ew. Hoheit ganz unmöglich erkennen!" Der Herzog von Raumburg, denn dieser war es, nickte kurz und stieg dann zur ersten Etage empor, in welcher sich die Wohnung des Inspektors befand. Dort angekommen, öffnete er ohne Weiteres eine Thür und befand sich seinem Untergebenen gegenüber, den über den unvermutheten Besuch eine sichtliche Überraschung befiel.
"Durchlaucht!"
"Schon gut; lassen wir alle Komplimente! Sie kennen meine Gewohnheit, Alles selbst zu sehen, mich von Allem so viel wie möglich selbst zu überzeugen. Ich komme, die Polizeigefängnisse zu revidiren. Ist Alles in Ordnung?"
"Alles," antwortete der Inspektor, nach einem Schlüsselbunde greifend.
"Lassen Sie die Schlüssel! Sie wissen, daß ich einen Hauptschlüssel für die Schlösser sämmtlicher Landesanstalten besitze. Ist bereits abgespeist?"
"Ja."
"Die Gefangenen haben die Strohsäcke in ihre Zellen bekommen und werden nun eigentlich nicht mehr gestört?"
"So ist es, Excellenz!"
"Sind alle Schließer da?"
"Nur der wachthabende; die andern haben frei."
"Gut. Er wird mich führen, und Ihre Begleitung ist also nicht nöthig."
Der Herzog verließ das Zimmer und schritt dem ihm wohlbekannten Theile des Gebäudes zu, in welchem sich die mit Nummern versehenen Gefängnißzellen befanden. Sie lagen an den Seiten von zwei Korridoren, welche den ersten und zweiten Stock des Hinterhauses bildeten. Der Jour habende Schließer erkannte ihn sofort und stellte sich in devotester Haltung zur Disposition.
"Revidiren!" klang es kurz und befehlshaberisch. "Wo, Excellenz?" "Zunächst oben!"
Sie stiegen eine zweite Treppe empor. Der Schließer öffnete eine Zellenthür nach der andern und leuchtete in die engen Räume, in welche der Herzog einen kurzen Blick warf. Fast waren sie damit fertig, als Raumburg frug:
"Haben Sie Trinkwasser oben?"
"Nein; es befindet sich im unteren Korridore."
Der Herzog hatte dies bereits bemerkt und gerade deshalb dieses Mittel gewählt, den Beamten auf eine kurze Zeit zu entfernen.
(\95\)A "Es gibt hier eine Luft, welche in Folge des Zellendunstes beinahe unerträglich ist. Holen Sie mir ein Glas frisches Wasser!"
Der Schließer beeilte sich, diesem Befehle schleunigst nachzukommen. Kaum hatte er den Gang verlassen, so trat der Herzog zu einer Thür, welche eine nach dem Boden führende Treppe verschloß. Mit Hilfe seines Hauptschlüssels war sie in drei Sekunden geöffnet; dann schloß er ebenso die Zelle auf, in welcher Helbig detinirt war, und zog ein Bündel unter seinem Rock hervor.
"Schnell, schnell! Hier ist der Strick. Dort hinauf!"
Helbig ergriff das Bündel und huschte die dunklen Stufen empor. Der Herzog verschloß die beiden Thüren hinter ihm und war damit vollständig fertig, als der Schließer das Wasser brachte. Die Revision wurde fortgesetzt.
(\96\)A Als der Herzog vorhin auf das Polizeigebäude zuschritt, war ihm von weitem ein Mann gefolgt, welcher sich ungesehen von ihm und dem Militärposten so plazirte, daß er den Eingang des Gebäudes im Auge zu behalten vermochte. Es war Max, der Sohn des Hofschmiedes Brandauer. Aus dem belauschten Gespräche zwischen Raumburg und Helbig hatte er mit Sicherheit geschlossen, daß heut etwas gegen ihn, Zarba und den Hauptmann unternommen werde, und daher den Palast des Herzogs aufgesucht, um das Nöthige zu beobachten. Seine Vermuthung bestätigte sich; er sah den Herzog seine Wohnung verlassen und folgte ihm auf dem Fuße bis hierher.
Er nahm als gewiß an, daß Helbig sein Gefängniß heimlich verlassen werde; da er aber die Art und Weise nicht kannte, in welcher dies bewerkstelligt werden sollte, so konnte er nicht den Mörder beobachten, sondern mußte sich begnügen, seine Aufmerksamkeit auf den herzog zu richten.
Er hatte beinahe eine volle Stunde gewartet, als er den Letzteren endlich aus dem Portale treten und die Straße hinabschreiten sah. Er folgte ihm.
Raumburg bog in die nächste Seitenstraße ein und folgte dann einigen engen Gassen, die ihn an die hintere Seite des Polizeigebäudes führten. Dieses lag außerhalb der inneren Stadt, und seine Rückfront stieß an das offene Feld, welches hier die Spuren einiger alter Festungsgräben zeigte, die nicht zugeschüttet worden waren. In den Vertiefungen wucherte ein üppiges Weidengebüsch, zu welchem der Herzog seine Schritte lenkte. Dort angekommen, stieß er einen leisen Pfiff aus, und sofort tauchte die Gestalt Helbigs vor ihm empor.
"Helbig!"
"Hier!"
"Alles gut?"
"Ja."
"Wo ist das Seil?" "Es hängt noch."
"Wirst Du wieder hinaufkommen?"
"Ja, wenn ich wirklich wieder in die Zelle muß. Aber ich denke, Sie wollen mir die Freiheit schenken!"
(\96\)B "Du sollst sie auch haben, aber auf anderem Wege. Du kehrst in Deine Zelle zurück,
und ich werde dafür sorgen, daß durch ein Alibi Deine Unschuld bewiesen wird."
"Es ist finster, und Niemand wird das Seil bemerken, mit dessen Hilfe ich wieder hinauf zum
Bodenfenster klettere; aber wie komme ich von dort oben wieder in meine Zelle?"
"Sobald Du oben bist, wirfst Du das Seil herab; ich werde es dann selbst entfernen. Natürlich kann ich Gründe haben, gegen Morgen das Gefängniß nochmals zu revidiren; Du wartest hinter der Bodenthür, bis ich diese öffne. Es wird morgen Niemand ahnen, daß Du während der Nacht das Gefängniß verlassen hast."
"Und nun meine Aufgabe, gnädiger Herr?"
"Du gehst zunächst in meinen Garten. In derjenigen hinteren Ecke, welche nach dem Flusse zu liegt, findest Du ein Paket. Es enthält einen vollständigen Handwerksburschenanzug, den Du anlegst. Hast Du Geschick genug, für einen Schmiedegesellen zu gelten?" "Wird mir nicht schwer fallen, Durchlaucht."
"Schön! Hier hast Du ein Wanderbuch, in welchem Du natürlich vorher die Visa nachsehen mußt. Kennst Du Brandauers Hofschmiede?"
"Ja."
"Dorthin gehst Du und sprichst um ein Nachtlager an." "Sie werden mich in die Herberge weisen."
"Ich habe Erkundigung eingezogen und erfahren, daß der Meister sehr oft wandernde Gesellen bei sich behält, wenn ihm ihr Äußeres und ihre Legitimation gefällt. Dein Wanderbuch wird Dich ihm empfehlen; das Übrige ist Deine eigene Sache. Du mußt auf alle Fälle versuchen, bleiben zu dürfen; halte Dich an die Gesellen; Hier hast Du Geld, ihnen ein Gratial zu geben. Und solltest Du partout gehen müssen, so benütze Deine Zeit wenigstens dazu, Dich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen, damit es Dir gelingt, Dich heimlich einzuschleichen." "Und was kommt dann?"