Выбрать главу

Offensichtlich hatte sie ihn nicht von raffiniertem Zucker befreit.

»Ich wünschte, ich hätte Ihre Willenskraft«, sagte Harry.

»Nur nicht aufgeben, Mädchen, nur nicht aufgeben!« Der nächste Keks verschwand zwischen den pink geschminkten Lippen.

Mrs. Hogendobbers adrettes Schindelhaus lag an der St. George Avenue, die annähernd parallel zur Railroad Avenue verlief. Eine zur Straße hin gelegene geschwungene Veranda mit einer Schaukel diente der hochgewachsenen Dame als Beobachtungsposten. Ein unter rosa Teerosen ächzendes Spalier zu beiden Seiten der Veranda erlaubte ihr, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden. Gott der Herr sagte nichts übers Spionieren, und so spionierte Mrs. Hogendobber mit Leidenschaft. Sie zog es vor, es in Gedanken als gesunde Neugier auf ihre Mitmenschen zu bezeichnen.

»Ich bin so froh, daß Sie bereit waren, mich zu empfangen«, begann Harry.

»Warum auch nicht?«

»Hm, tja, warum eigentlich nicht?« Harry lächelte, und das erinnerte Mrs. Hogendobber an Harry als süße Siebzehnjährige.

»Ich bin gekommen, um, hm, ein bißchen herumzustochern, nach Hinweisen auf die Morde. Vielleicht aufschlußreiche Einzelheiten, Gedanken - Sie sind eine so gute Beobachterin.«

»Man muß morgens früh aufstehen, um mir zu entgehen.« Mrs. H. nahm das Kompliment bereitwillig entgegen, und tatsächlich entging ihr nicht viel. »Mein verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, pflegte zu sagen:Miranda, du bist mit Augen am Hinterkopf geboren. < Ich konnte seine Wünsche ahnen, bevor er sie äußerte, und er dachte, ich hätte seherische Kräfte, doch davon keine Spur. Ich war eine gute Ehefrau. Ich war aufmerksam. Die Kleinigkeiten sind es, die eine Ehe ausmachen, meine Liebe. Ich hoffe, Sie haben Ihre Ehe überprüft und werden Ihr Handeln überdenken. Ich bezweifle, daß es bessere Männer gibt als Fair - nur andere. Auf ihre einmalige Art machen sie alle Ärger.« Sie schenkte sich Tee nach und öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. »Wo war ich stehengeblieben?«

»… machen sie alle Ärger.« Harry hatte die Sache von sich aus noch nicht so gesehen.

»Wenn Sie diese Turnschuhe ausziehen und sich ein paar hübsche Kleider statt der Jeans kaufen würden, würde er, denke ich, zu Verstand kommen.«

»In der Liebe geht es meistens darum, den Verstand zu verlieren und nicht darum, zu Verstand zu kommen.«

Mrs. H. bedachte das. »Ja…ja.«

Ehe sie sich auf ein anderes Thema stürzen konnte, fragte Harry: »Was hielten Sie von Maude Bly Modena?«

»Ich glaube, sie war Katholikin. Sie sah so italienisch aus. Der Laden verriet, wie gerissen sie war. Gesellschaftlich habe ich nicht mit ihr verkehrt. Mein gesellschaftliches Leben spielt sich im Umkreis der Kirche ab, und, wie gesagt, ich glaube, Maude war katholisch.« Mrs. Hogendobber räusperte sich bei »katholisch«.

»Mir war sie, genau wie Ihnen, erst seit fünf Jahren bekannt. Keine lange Zeit, aber es genügt, um ein Gefühl für einen Menschen zu bekommen, denke ich. Sie hatte Josiah anscheinend sehr gern.«

»Washatten Sie denn für ein Gefühl?«

Der Busen wogte. Sie brannte darauf, sich über das Thema auslassen zu dürfen. »Ich hatte das Gefühl, daß sie etwas verbarg - die ganze Zeit.«

»Und was?«

»Wenn ich das nur wüßte. Sie hat im Laden niemanden betrogen. Ich habe nie gehört, daß sie zuwenig herausgab oder zuviel berechnete, aber etwas, oh, etwas stimmte nicht ganz. Sie sprach sehr wenig über ihre Herkunft.« Anders als Mrs. Hogendobber, die bei jeder Gelegenheit die Straße der Erinnerung entlang galoppierte.

»Mir hat sie auch nicht viel erzählt. Ich hielt sie für verschwiegen. Schließlich war sie ein Yankee.«

»Keine von uns, meine Liebe, keine von uns. Ihre Manieren waren entsprechend. Es fehlte ihr natürlich an Kultiviertheit - so sind sie alle. Aber dafür haben wir Mim, die reichlich überkultiviert ist, wenn Sie mich fragen.«

»Ich hatte sie gern. Ich hatte mich sogar an ihren Akzent gewöhnt.« Unbehagen beschlich Harrys Herz. Die arme Maude war nicht da, um sich zu verteidigen, und sie bedauerte, nach ihr gefragt zu haben.

»Ich konnte nicht viel verstehen von dem, was sie sagte. Ich habe mich auf den Tonfall verlassen, auf Gebärden und dergleichen. Ich wette, sie kam aus einer Mafiafamilie.«

»Wieso?«

»Nun ja, sie war katholisch und Italienerin.«

»Das heißt noch nicht, daß sie aus einer Mafiafamilie kam.«

»Nein, aber Sie können das Gegenteil nicht beweisen.«

Auf der Heimfahrt fing Harry zu lachen an. Alles war so schrecklich und so schrecklich komisch. Mußte ein Mensch sterben, bevor man die Wahrheit über ihn erfuhr? Solange eine Person am Leben war, bestand die Chance, daß ihr alles, was über sie gesagt wurde, zu Ohren kam. Deswegen wogen Harry und die meisten Leute in Crozet ihre Worte ab. Man dachte zweimal, bevor man sprach, insbesondere wenn man beabsichtigte zu sagen, was man dachte.

Was Harry sonst noch von Mrs. Hogendobber erfahren hatte, waren Insassen und Nummernschild jedes Autos, das in den letzten vierundzwanzig Stunden durch die St. George Avenue

gefahren war. Die Bürgerwacht war für Mrs. Hogendobber die Gelegenheit, für ihren natürlichen Hang zum Schnüffeln belohnt zu werden.

17

Ned Tucker träumte davon, Sonntags morgens einmal auszuschlafen, aber um halb sieben ertönte der Wecker. Er öffnete die Augen, stellte das lästige Geräusch ab und setzte sich auf. Auf der Digitaluhr blinkte die Zeit türkisblau. Ned kam in den Sinn, daß eine ganze Generation amerikanischer Kinder eine herkömmliche Uhr nicht mehr würde lesen können. Aber sie konnten ja auch nicht addieren und subtrahieren. Taschenrechner nahmen ihnen die Mühe ab.

Harry sagte immer, Digitaluhren gingen ihr auf den Wecker. Uhren ohne Zeiger erinnerten sie an Amputierte. Keine Hände. Ned lächelte bei dem Gedanken an Harry. Susan drehte sich um, und er lächelte noch mehr. Seine Frau konnte bei einem Erdbeben, einem Gewitter, bei was auch immer durchschlafen. Er würde sie noch eine Dreiviertelstunde schlafen lassen und die Kinder versorgen. Die väterlichen Verrichtungen waren ihm ein Trost. Was ihn bekümmerte, war das Beispiel, das er gab. Er wollte nicht als Sklave seiner Arbeit wirken, aber zu träge wollte er auch nicht erscheinen. Er wollte nicht zu streng sein, aber auch nicht zu lasch. Er wollte seinen Sohn nicht anders behandeln als seine Tochter, doch er wußte, daß er es tat. Es war so viel einfacher, eine Tochter zu lieben - aber dasselbe behauptete Susan von ihrem Sohn.

Eine Dusche und eine Rasur hoben Neds Stimmung: eine Tasse Kaffee brachte ihn auf Touren. In zwanzig Minuten würde er Brookie und Dan wecken müssen, damit sie sich für die Kirche fertig machten. Er beschloß, die kostbare stille Zeit, die ihm verblieb, zu nutzen, um die Rechnungen durchzusehen. Alles war teurer, als es hätte sein sollen, und es versetzte ihm jedesmal einen Stich, wenn er die Schecks ausschrieb. Zuerst kontrollierte er den Kontoauszug. Eine Abhebung von fünfhundert Dollar am letzten Montag vertrieb die letzte Schlaftrunkenheit. Er hatte am letzten Montag keinen solchen Betrag abgehoben, und Susan auch nicht. Jeder Betrag über zweihundert Dollar mußte zwischen ihnen abgesprochen werden. Er hätte den Auszug am liebsten zerknüllt, aber er legte ihn sorgsam beiseite. Er konnte sich ohnehin erst morgen mit der Bank in Verbindung setzen.

Um sieben klingelte das Telefon. Ned hob ab. »Hallo.«

»Ned, du bist immer so früh auf wie ich, darum hoffe ich, du findest es nicht unverschämt, daß ich anrufe.« Josiah DeWitts sanfte Stimme klang ernst.

»Was kann ich für dich tun?« erkundigte sich Ned.

»Du bist - du warst doch Maudies Anwalt, hab ich recht?«