Er sah zu den beiden Ständen hinüber, an denen Kopien von Ausstellungsstücken des Museums verkauft wurden. Sie waren von Touristen umlagert, und die beiden Verkäuferinnen hatten Mühe, den Ansturm zu bewältigen.
Vielleicht sind sie bald ausverkauft, dachte er hoffnungsvoll, und ich kann Rizzolis Plan nicht in die Tat umsetzen. Aber er wußte, daß das eine unrealistische Hoffnung war, denn im Keller des Museums lagerten noch Hunderte von Kopien. Die Vase, die er auf Tonys Vorschlag stehlen sollte, gehörte zu den größten Schätzen des Museums. Sie stammte aus der Zeit um 1500 vor Christus; eine Amphore mit roten mythologischen Figuren auf schwarzem Untergrund. Viktor Korontzis hatte sie zum letzten Mal vor über einem Jahrzehnt in den Händen gehalten, als er sie ehrfürchtig in die Vitrine gestellt hatte, in der man sie für ewig in Sicherheit glaubte. Und jetzt stehle ich sie, dachte er unglücklich. Gott sei mir gnädig.
Korontzis brachte den ganzen Nachmittag wie benommen hinter seinem Schreibtisch zu. Er fürchtete den Augenblick, in dem er zum Dieb werden würde. Ich bring's nicht fertig. Es muß irgendeine andere Lösung geben. Aber welche! Er sah keine Möglichkeit, so viel Geld aufzutreiben. Und er glaubte, Sal Prizzis Stimme zu hören. Ich kriege mein Geld noch heute abend, sonst wirst du an meine Hunde verfüttert. Kapiert! Der Mann war ein Killer. Nein, ihm blieb nichts anderes übrig.
Erst kurz vor 18 Uhr tauchte Viktor Korontzis wieder aus seinem Büro auf. Die beiden Frauen, die Kopien von Museumsstücken verkauften, hatten gerade begonnen, die Tageseinnahmen abzurechnen.
«Signomi!« rief Korontzis.»Einer meiner Freunde hat heute Geburtstag. Ich dachte, ich könnte ihm etwas aus dem Museum schenken. «Er trat an den Stand und gab vor, die ausgestellten Amphoren, Kelche, Bücher und Karten zu betrachten. Zuletzt deutete er auf eine Kopie der roten Amphore.»Die da würde ihm gefallen, denk' ich.«
«Die gefällt ihm bestimmt«, sagte die Verkäuferin und nahm die Amphore aus dem Schaukasten.
«Geben Sie mir bitte eine Quittung mit.«
«Sofort, Herr Korontzis. Soll ich sie Ihnen als Geschenk einpacken?«
«Nein, das ist nicht notwendig«, wehrte er hastig ab.»Sie können Sie einfach in eine Tüte stecken.«
Er beobachtete, wie sie die Kopie in eine Tüte steckte und die Quittung dazulegte.»Danke.«
«Hoffentlich hat Ihr Freund Spaß daran.«
«Oh, da bin ich sicher. «Er nahm mit zitternden Händen die Tüte entgegen und ging in sein Büro zurück.
Dann sperrte er die Tür ab, nahm die Amphorenkopie aus der Tragtüte und stellte sie auf seinen Schreibtisch. Es ist noch nicht zu spät, dachte er. Noch habe ich nichts Strafbares getan. In seiner quälenden Unentschlossenheit gingen ihm die wirrsten Gedanken durch den Kopf.
Ich könnte Frau und Kinder im Stich lassen und mich ins Ausland absetzen. Ich könnte Selbstmord verüben. Ich könnte zur Polizei gehen und anzeigen, daß ich bedroht werde. Aber wenn die Wahrheit rauskommt, bin ich ruiniert.
Nein, es gab keinen Ausweg. Er wußte, daß Prizzi ihn umbringen würde, wenn er seine Spielschulden nicht bezahlte. Gott sei Dank habe ich meinen Freund Tony. Ohne ihn wäre ich ein toter Mann.
Korontzis sah auf seine Uhr. Höchste Zeit! Er stand auf, merkte, daß seine Knie zitterten, atmete tief durch und versuchte, ruhiger zu werden. Seine Hände waren schweißnaß. Er wischte sie an seinem
Hemd ab. Dann steckte er die Kopie in die Tragtüte zurück und sperrte die Tür auf. Der Wachmann am Eingang hatte Dienst, bis das Museum um 18 Uhr schloß. Sein Kollege vom Nachtdienst, der die Runde durch alle Säle machte, mußte um diese Zeit in einem der hinteren Räume sein.
Als Korontzis sein Büro verließ, wäre er beinahe mit dem Nachtwächter zusammengeprallt. Er zuckte schuldbewußt zusammen.
«Entschuldigung, Herr Korontzis. Ich hab' nicht gewußt, daß Sie noch da sind.«
«Ja. Ich… ich wollte gerade gehen.«
«Wissen Sie«, sagte der Nachtwächter bewundernd,»ich beneide Sie oft.«
Wenn der wüßte!» Tatsächlich? Warum denn?«
«Sie wissen so viel über all diese schönen Dinge. Ich mache meine Runde und schaue mir die Sachen an, ohne viel davon zu verstehen. Dabei sind das kostbare Stücke, Teile unserer Geschichte, nicht wahr? Vielleicht könnten Sie mich gelegentlich mal durch die Sammlung führen. Ich wüßte wirklich gern
Warum hält der alte Trottel nicht endlich die Klappe.»Ja, natürlich. Irgendwann. Ich führe Siegern einmal.«Über die Schulter des Mannes hinweg sah Korontzis die Vitrine mit der kostbaren Amphore. Er mußte den Nachtwächter irgendwie loswerden.
«Ich…Hören Sie, mit der Alarmanlage an den Kellerfenstern scheint irgendwas nicht in Ordnung zu sein. Würden Sie die bitte überprüfen?«
«Wird gemacht. Soviel ich gelesen habe, stammen einige unserer Stücke aus dem…»
«Würden Sie sie bitte gleich überprüfen? Ich möchte nicht gehen, bevor ich weiß, daß alles in Ordnung ist.«
«Sofort, Herr Korontzis. Bin gleich wieder da!«
Viktor Korontzis blieb stehen und sah dem zur Kellertreppe gehenden Nachtwächter nach. Sobald der Mann verschwunden war, hastete er zu der Vitrine mit der roten Amphore. Während er einen Schlüssel aus der Tasche zog, dachte er: Ich tu's wirklich! Ich bin dabei, sie zu stehlen.
Der Schlüssel glitt ihm aus den Fingern und fiel klirrend zu Boden. Ist das ein Omen! Versucht Gott mir irgend etwas zu sagen? Sein
Hemd war schweißnaß. Er bückte sich, hob den Schlüssel auf und starrte dabei die Amphore an. Ein wahres Prachtstück! Vor Urzeiten hatten seine Vorfahren sie mit liebevoller Sorgfalt hergestellt. Der Nachtwächter hatte recht: Sie war ein unersetzliches Stück griechischer Geschichte.
Korontzis schloß kurz die Augen und bemühte sich, sein Zittern zu unterdrücken. Dann überzeugte er sich durch einen raschen Blick, daß er nicht beobachtet wurde, sperrte die Vitrine auf und nahm die Amphore vorsichtig heraus. Als nächstes holte er die Kopie aus der Tragtüte und stellte sie in die Vitrine.
Korontzis richtete sich auf und betrachtete die Amphore. Obwohl sie eine sehr gute Kopie war, schien sie für ihn Fälschung zu rufen. Der Schwindel war unverkennbar. Aber nur für mich, dachte Korontzis, und ein paar weitere Fachleute. Außer ihnen würde kein Mensch etwas merken. Und niemand hatte einen Grund, die Amphore genauer zu untersuchen. Korontzis sperrte die Vitrine ab und legte die echte Amphore in die Tragtüte mit der quittierten Rechnung.
Dann zog er sein Taschentuch heraus und wischte sich Gesicht und Hände ab. Geschafft! Er sah auf seine Armbanduhr. 18.11 Uhr. Er mußte sich beeilen. Als er zum Ausgang unterwegs war, sah er den Nachtwächter auf sich zukommen.
«Die Alarmanlage scheint völlig in Ordnung zu sein, Herr Korontzis, und…«
«Gut«, unterbrach Korontzis.»Wir können nicht vorsichtig genug sein, stimmt's?«
Der Mann nickte lächelnd.»Da haben Sie recht. Gehen Sie jetzt?«
«Ja. Gute Nacht.«
«Gute Nacht.«
Der Wachmann, der tagsüber Dienst hatte, stand noch am Ausgang und schien eben gehen zu wollen. Er grinste, als er die Tragtüte sah.»Die muß ich kontrollieren. Das haben Sie selbst angeordnet.«
«Selbstverständlich«, sagte Korontzis rasch. Er gab ihm seine Tragtüte.
Der Wachmann warf einen Blick hinein, holte die Amphore heraus und sah die Quittung.
«Ein Geschenk für einen Freund«, erklärte Korontzis ihm.»Er ist Ingenieur.«Wozu hast du das gesagt? Was kümmert den das? Benimm dich gefälligst natürlich!
«Hübsch. «Der Wachmann warf die Amphore in die Tragtüte zurück, und Korontzis fürchtete einen schrecklichen Augenblick lang, sie würde zersplittern.
Viktor Korontzis drückte die Tragtüte an seine Brust. »Kalispera.«
Der Wachmann hielt ihm die Tür auf. »Kalispera.«