Am Samstag abend stand Tony Rizzoli an der Reling und sah aufs Meer hinaus, als am Horizont ein Gewitter aufzog.
Der Erste Offizier trat auf ihn zu.»Wir bekommen schweres Wetter, Mr. Rizzoli. Hoffentlich sind Sie ausreichend seefest.«
Rizzoli zuckte mit den Schultern.»Mich stört so leicht nichts.«
Der Seegang wurde höher. Das Schiff begann in die Wellentäler einzutauchen, aus denen es sich schlingernd und stampfend wieder hervorarbeitete.
Tony Rizzoli merkte, daß ihm übel wurde. Okay, dann bin ich eben nicht seefest, dachte er. Was macht das schon! Schließlich gehörte ihm die Welt. Er zog sich früh in seine Kabine zurück und legte sich in seine Koje.
Wieder träumte er. Diesmal nicht von goldenen Schiffen, weißen Palästen oder nackten Schönheiten; es waren Alpträume. Irgendwo tobte ein Krieg, und er glaubte, Kanonendonner zu hören. Eine Detonation ließ ihn hochschrecken.
Rizzoli setzte sich auf. Die Kabine schwankte tatsächlich. Das Schiff mußte ins Zentrum des gottverdammten Sturms geraten sein. Dann hörte er draußen im Gang hastig vorbeipolternde Schritte. Zum Teufel, was ging hier vor?
Tony Rizzoli sprang aus der Koje und riß die Kabinentür auf. In diesem Augenblick bekam das Schiff so starke Schlagseite, daß er fast das Gleichgewicht verlor.
«He, was ist passiert?«rief er einem der vorbeihastenden Männer zu.
«Explosion! Das Schiff brennt! Wir sinken! Sehen Sie zu, daß Sie an Deck kommen!«
«Wir sinken…?« Rizzoli wollte seinen Ohren nicht trauen. Bisher war alles so glatt gegangen. Es spielt keine Rolle, dachte er. Ich kann's mir leisten, diese Ladung zu verlieren. Es wird noch viele andere geben. Aber ich muß Demiris retten. Er ist der Schlüssel zu allem. Wir müssen einen Notruf senden. Und dann fiel ihm ein, daß er Anweisung gegeben hatte, die Funkanlage zu zerstören.
Der Amerikaner hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, als er sich zum nächsten Auf gang vorarbeitete und an Deck kletterte. Zu seiner Überraschung sah er, daß der Sturm abgeflaut war. Ein voller Mond beleuchtete die Szenerie. Dann erschütterten zwei weitere Explosionen das Schiff, das nun rasch übers Heck zu sinken begann. Matrosen versuchten, die Rettungsboote auszusetzen, aber es war zu spät. Die See um den Tanker herum war mit einem brennenden Ölteppich bedeckt. Wo war Constantin Demiris?
Und dann hörte Rizzoli es. Es war ein fremdartiges Knattern, das den Lärm von Explosionen und Flammen übertönte. Er hob den Kopf. Zehn Meter über ihm schwebte ein Hubschrauber.
Wir sind gerettet! dachte. Tony Rizzoli jubelnd. Er winkte dem Piloten hysterisch zu.
Hinter dem Kabinenfenster des Hubschraubers erschien ein Gesicht. Rizzoli brauchte einen Augenblick, um Constantin Demiris zu erkennen. Er lächelte und hielt mit einer Hand die kostbare Amphore hoch.
Tony Rizzoli starrte ihn an, während sein Gehirn versuchte, das Gesehene zu verarbeiten. Wo hatte Constantin Demiris mitten in der Nacht einen Hubschrauber aufgetrieben, um…?
Und dann wußte er plötzlich, was geschehen war, und wurde leichenblaß. Constantin Demiris hatte niemals die Absicht gehabt, mit ihm ins Geschäft zu kommen. Der Hundesohn hatte alles von Anfang an so geplant! Der Anruf, der ihn vor Demiris' Flucht gewarnt hatte, war nicht im Auftrag von Spyros Lambrou gekommen. Demiris hatte ihn anrufen lassen! Demiris hatte ihm eine Falle gestellt, um ihn an Bord zu locken, und er war bereitwillig hineingetappt…
Der Tanker begann schneller zu sinken, und Rizzoli spürte das kalte Meerwasser um seine Füße, dann um seine Knie schwappen. Dieser Hurensohn wollte sie alle hier eiskalt absaufen lassen, um sämtliche Spuren zu verwischen.
Tony Rizzoli starrte den Hubschrauber an und brüllte verzweifelt:»Nehmen Sie mich mit! Sie kriegen von mir, was Sie wollen!«Der Wind verwehte seine Worte.
Das letzte, was Tony Rizzoli sah, bevor die Thele endgültig im Meer versank und seine Augen sich mit brennendem Salzwasser füllten, war der in Richtung Mond davonfliegende Hubschrauber.
17
Catherine stand immer noch unter Schock. Sie saß in ihrer Hotelsuite auf der Couch und hörte zu, wie Wachtmeister Hans Bergmann, der Führer der Rettungsmannschaft, ihr berichtete, daß Kirk Reynolds tot war. Bergmanns Stimme floß in Wellen über sie hinweg; sie verstand kaum, was er sagte. Das Ungeheuerliche hatte ihr alle Kraft geraubt.
Alle Menschen um mich herum sterben, dachte sie verzweifelt. Larry ist tot — und jetzt auch Kirk. Und Noelle Page, Napoleon Chotas, Frederick Stavros. Ein Alptraum ohne Ende.
Wachtmeister Bergmanns Stimme drang vage durch den Nebel ihrer Verzweiflung.»Mrs. Reynolds… Mrs. Reynolds… «
Sie hob den Kopf.
«Ich bin nicht Mrs. Reynolds«, sagte sie müde.»Ich bin Catherine Alexander. Kirk und ich waren… wir waren befreundet. «
«Ich verstehe.«
Catherine holte tief Luft.
«Wie… wie hat das passieren können? Kirk war ein so guter Skifahrer.«
«Ja, ich weiß. Er ist oft nach Sankt Moritz gekommen. «Er schüttelte den Kopf.»Ehrlich gesagt, der Unfall ist auch mir ein Rätsel, Miss Alexander. Wir haben den Toten auf der wegen Lawinengefahr gesperrten Lagalb-Abfahrt gefunden. Der Wind muß das Warnschild umgeblasen haben. Ich kann Ihnen nur mein Beileid aussprechen.«
Beileid. Was für ein schwaches, was für ein dummes Wort.
«Können wir bei den Überführungsformalitäten mit Ihrer Hilfe rechnen, Miss Alexander?«
Der Tod war also nicht das Ende. Nein, es gab Formalitäten zu erledigen. Überführung, Grabstätte, Sarg, Blumen und Kränze — und die Verwandtschaft, die benachrichtigt werden mußte. Catherine hätte am liebsten laut geschrieen.
«Miss Alexander?«
Catherine sah auf.»Ich verständige seine Angehörigen.«
Die Rückkehr nach London war eine Trauerreise. Catherine war voller Hoffnung mit Kirk in die Berge gekommen, sie hatte geglaubt, dies könnte vielleicht ein Neuanfang sein, die Tür zu einem neuen Leben.
Kirk war so geduldig, so rücksichtsvoll gewesen. Ich hätte mit ihm schlafen sollen, dachte Catherine. Aber hätte das letzten Endes eine Rolle gespielt! Hätte das irgendwas geändert? Ein Fluch liegt auf mir. Ich vernichte jeden, der mit mir in Berührung kommt.
In London war Catherine zu deprimiert, um gleich ins Büro zu gehen. Sie blieb in ihrer Wohnung und weigerte sich, Besuch zu empfangen oder mit irgend jemandem zu sprechen. Anna, die Haushälterin, kochte für sie und brachte die Mahlzeiten in Catherines Zimmer, aber die Tabletts kamen stets unberührt zurück.
«Sie müssen etwas essen, Miss Alexander. «Aber Catherine wurde schon bei dem Gedanken an Essen übel.
Am nächsten Tag ging es Catherine noch schlechter. Sie hatte das Gefühl, um ihre Brust lägen Eisenbänder. Sie bekam kaum noch Luft.
So kann ich nicht weitermachen! dachte Catherine. Ich muß etwas unternehmen.
Sie sprach mit Evelyn Kaye darüber.
«Ich habe Schuld an allem, was passiert ist.«
«Das ist Unsinn, Catherine.«
«Ja, ich weiß — aber ich kann nicht dagegen an. Ich fühle mich verantwortlich. Ich brauche jemanden, bei dem ich mich aussprechen kann. Ich habe schon daran gedacht, zu einem Psychiater zu gehen
«Ich weiß einen ganz ausgezeichneten«, versicherte Evelyn ihr.»Wim geht übrigens gelegentlich zu ihm. Er heißt Alan Hamilton. Ich habe eine Freundin, die selbstmordgefährdet war und von Doktor Hamilton völlig geheilt wurde. Möchtest du zu ihm?«
Was ist, wenn er mir erklärt, daß ich verrückt bin? Was ist, wenn ich's bin?» Gut, von mir aus«, sagte Catherine widerstrebend.
«Ich versuche, einen Termin für dich zu bekommen. Er ist sehr beschäftigt.«
«Danke, Evelyn, das ist nett von dir.«
Catherine ging in Wims Büro. Er sollte erfahren, was Kirk zugestoßen ist, dachte sie.
«Wim — erinnern Sie sich an Kirk Reynolds? Er ist vor ein paar Tagen beim Skifahren tödlich verunglückt.«