«Oh? Westminster null-vier-sieben-eins-eins.«
Catherine starrte ihn an.»Wie bitte?«Und dann wurde ihr plötzlich klar, daß er Kirks Telefonnummer heruntergeleiert hatte. War das alles, was Menschen für Wim bedeuteten? Eine Zahlenreihe? Empfand er gar nichts für sie? War er wirklich unfähig, zu lieben, zu hassen oder Mitleid zu haben?
Vielleicht ist er besser dran als ich, dachte Catherine. Wenigstens bleibt ihm der schreckliche Schmerz erspart, den wir anderen empfinden können.
Evelyn meldete Catherine für den kommenden Freitag bei Dr. Hamilton an. Sie überlegte, ob sie Constantin Demiris anrufen und ihm diese Tatsache mitteilen sollte. Aber dann verzichtete sie darauf, weil die Angelegenheit ihr nicht wichtig genug erschien, um ihn damit zu belästigen.
Alan Hamiltons Praxis lag in der Wimpole Street. Als Catherine zu ihrem ersten Termin erschien, war sie ängstlich und aufgebracht. Ängstlich, weil sie sich davor fürchtete, was er über sie sagen könne, und aufgebracht, weil sie sich ärgerte, die Hilfe eines Fremden in Anspruch nehmen zu müssen, um Probleme zu lösen, die sie eigentlich allein hätte bewältigen können müssen.
«Doktor Hamilton ist bereit für Sie, Miss Alexander«, sagte die Sprechstundenhilfe hinter der gläsernen Trennwand.
Aber bin ich bereit für ihn? fragte Catherine sich. Jähe Panik erfaßte sie. Was tue ich hier? Ich denke nicht daran, mich in die Hände irgendeines Quacksalbers zu begeben, der sich wahrscheinlich für Gott hält.
«Ich… ich hab's mir anders überlegt«, antwortete Catherine.»Ich brauche eigentlich gar keine Beratung. Aber diesen Termin bezahle ich natürlich.«
«Oh! Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Die Sprechstundenhilfe verschwand im Behandlungszimmer ihres Chefs.
Wenig später öffnete sich die Tür, und Alan Hamilton kam heraus. Er war ein großer blonder Mann von Anfang Vierzig mit strahlendblauen Augen und legeren Umgangsformen.
«Jetzt ist mein Tag gerettet!«erklärte er Catherine lächelnd.
Sie runzelte die Stirn.»Was…?«
«Ich habe nicht gewußt, was für ein guter Arzt ich wirklich bin. Sie sind eben erst in meine Praxis gekommen — und schon fühlen Sie sich besser. Das ist bestimmt eine Art Rekord.«
«Tut mir leid«, murmelte Catherine verlegen.»Es war ein Irrtum. Ich brauche gar keine Hilfe.«
«Ich freue mich, das zu hören«, versicherte Alan Hamilton ihr.»Ich wollte, alle meine Patienten könnten das von sich sagen. Aber wollen Sie nicht einen Augenblick hereinkommen, Miss Alexander, wenn Sie schon mal da sind? Wir könnten eine Tasse Kaffee trinken.«
«Nein, vielen Dank. Ich möchte
«Ich verspreche Ihnen, daß Sie sie im Sitzen trinken dürfen.«
Catherine gab ihr Zögern auf.»Gut, aber nur für eine Minute.«
Sie folgte ihm ins Sprechzimmer. Es war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet und erinnerte eher an einen Wohnraum als an ein Behandlungszimmer. An den Wänden hingen einige gute Grafiken, und auf seinem Schreibtisch stand das gerahmte Foto einer schönen Frau in den Dreißigern mit einem Jungen von fünf oder sechs Jahren. Gut, er hat also eine hübsche Praxis und eine attraktive Familie. Was beweist das?
«Nehmen Sie bitte Platz«, forderte Dr. Hamilton sie auf.»Der Kaffee ist bestimmt gleich fertig.«
«Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich Ihre Zeit vergeude, Doktor. Ich bin
«Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. «Er lehnte sich in seinen Sessel zurück, während er sie betrachtete.»Sie haben viel durchgemacht«, sagte er mitfühlend.
«Was wissen Sie schon davon?«fauchte Catherine. Ihr Tonfall war aggressiver, als sie beabsichtigt hatte.
«Ich habe mit Evelyn Kaye gesprochen. Sie hat mir erzählt, was in Sankt Moritz vorgefallen ist. Mein Beileid, Miss Alexander.«
Schon wieder dieses verdammte Wort!» Das können Sie sich sparen. Warum versuchen Sie nicht, Kirk ins Leben zurückzuholen, wenn Sie ein so hervorragender Arzt sind?«Der in ihr aufgestaute Schmerz brach sich plötzlich Bahn, und sie nahm zu ihrem
Erschrecken wahr, daß sie hysterisch schluchzte.»Lassen Sie mich in Ruhe!«kreischte sie.»Lassen Sie mich in Ruhe!«
Alan Hamilton saß da, beobachtete sie und ließ ihren Ausbruch schweigend über sich ergehen.
«Verzeihen Sie«, murmelte Catherine, nachdem sie sich wieder leidlich gefaßt hatte.»Ich muß jetzt wirklich gehen. «Sie stand auf und ging zur Tür.
«Miss Alexander, ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann, aber ich möchte es versuchen. Ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich Sie bei allem, was ich tue, nicht verletzen werde.«
Catherine blieb unschlüssig an der Tür stehen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie sich jetzt zu Hamilton umdrehte.»Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist«, flüsterte sie.»Ich fühle mich so verloren.«
Alan Hamilton stand auf und trat auf sie zu.»Warum versuchen wir dann nicht, Sie zu finden? Wir können gemeinsam daran arbeiten. Nehmen Sie bitte wieder Platz. Ich sehe nach, wo der Kaffee bleibt.«
Er blieb einige Minuten lang draußen.
Während seiner Abwesenheit saß Catherine da und fragte sich, wie es ihm gelungen war, sie zum Bleiben zu bewegen. Seine ganze Art hatte eine beruhigende Wirkung. Und irgend etwas an seinem Auftreten war vertrauenerweckend.
Vielleicht kann er mir helfen, dachte Catherine.
Alan Hamilton kam mit zwei Tassen Kaffee und einem Tablett zurück.»Sahne? Zucker?«
«Nein, danke.«
Er setzte sich ihr gegenüber.»Ihr Freund ist beim Skifahren tödlich verunglückt, nicht wahr?«
Es tut so weh, darüber zu sprechen!'»Ja — bei einer Abfahrt auf einer Piste, die eigentlich gesperrt war. Aber der Wind hatte das Warnschild umgeblasen.«
«Ist es das erste Mal, daß ein Ihnen nahestehender Mensch gestorben ist?«
Wie sollte sie diese Frage beantworten? O nein! Mein Mann und seine Geliebte sind hingerichtet worden, weil sie versucht haben, mich zu ermorden. Ich bringe allen um mich herum den Tod. Es wäre ein Schock für ihn. Wie er dasitzt und auf eine Antwort wartet, dieser eingebildete Affe! Aber sie hatte nicht die Absicht, seine
Neugier zu befriedigen. Ihr Privatleben ging ihn nichts an. Ich mag
ihn nicht!
Alan Hamilton sah ihre verärgerte Miene und wechselte bewußt das Thema.»Wie geht's Wim?«erkundigte er sich.
Die Frage brachte Catherine völlig aus dem Gleichgewicht.»Wim? Oh, dem… dem geht's gut. Evelyn hat mir erzählt, daß er bei Ihnen in Behandlung ist.«
«Ja.«
«Können Sie mir erklären, warum er so merkwürdig ist?«
«Wim ist zu mir gekommen, weil er eine Stellung nach der anderen verlor. Er ist eine sehr seltene Erscheinung — ein echter Misanthrop. Die Ursachen dafür kann ich Ihnen jetzt nicht erläutern, aber im Grunde genommen haßt er seine Mitmenschen. Er ist außerstande, normale Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen.«
Catherine erinnerte sich an Evelyns Worte: Wim kennt keine Gefühlsregungen. Er wird sich niemals zu jemandem hingezogen fühlen.
«Aber Wim ist ein Zahlengenie«, fuhr Alan Hamilton fort.»Und jetzt hat er eine Stellung, in der er seine besonderen Fähigkeiten einsetzen kann.«
Catherine nickte zustimmend.»Einem Menschen wie ihm bin ich noch nie begegnet.«
Dr. Hamilton beugte sich in seinem Sessel vor.»Miss Alexander«, sagte er,»Sie machen jetzt eine sehr schmerzliche Phase durch, aber ich glaube, daß ich sie Ihnen erleichtern kann. Ich möchte es jedenfalls versuchen.«
«Ich… ich weiß nicht recht«, antwortete Catherine widerstrebend.»Mir kommt alles so hoffnungslos vor.«
«Solange Ihnen so zumute ist«, sagte Alan Hamilton lächelnd,»kann's nur noch aufwärtsgehen, oder?«Sein Lächeln war ansteckend.»Wollen wir nicht noch einen weiteren Termin vereinbaren? Falls Sie mich danach noch immer ablehnen, geben wir's auf.«