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Erich Maria Remarque

Schatten im Paradies

Prolog

Das Ende des letzten Krieges erlebte ich in New York. Die Gegend um die 17. Straße war mir, dem Heimatlosen, der die Sprache dieses Landes nur sehr mangelhaft beherrschte, fast zu einer neuen Heimat geworden.

Hinter mir lag ein langer, gefährlicher Weg, die Via dolorosa all derer, die vor dem Hitler-Regime hatten fliehen müssen. Die Straße der Leiden lief von Holland, Belgien und Nordfrankreich nach Paris. Dort teilte sie sich. Der eine Weg führte über Lyon an die Küste des Mittelmeeres, der andere über Bordeaux und die Pyrenäen nach Spanien, Portugal und zum Hafen von Lissabon.

Ich war diese Straße entlanggezogen wie so viele, die der Ge stapo entkommen waren. Doch auch in den Ländern, durch die unsere Fluchtwege führten, waren wir noch nicht in Sicherheit, denn nur die wenigsten von uns hatten gültige Ausweise oder Visa. Wenn die Gendarmen uns erwischten, wurden wir einge sperrt, zu Gefängnis verurteilt und ausgewiesen. Einige der Län der waren allerdings menschlich genug, uns wenigstens nicht über die deutsche Grenze abzuschieben; dort wären wir in den Kon zentrationslagern umgekommen.

Da nur wenige Flüchtlinge gültige Pässe hatten mitnehmen kön nen, waren wir deshalb fast pausenlos auf der Flucht. Wir konn ten ohne Papiere auch nirgendwo legal arbeiten. Die meisten von uns waren hungrig, elend und einsam; deshalb nannten wir die Straße unserer Wanderungen auch die Via dolorosa.

Unsere Stationen waren die Postämter in den kleinen Städten und die weißen Mauern an den Straßen. Auf den Postämtern versuchten wir postlagernde Nachrichten von Angehörigen und Freunden zu finden; die Mauern und Häuser an den Chausseen wurden unsere Zeitungen. In Kreide und Kohle fand man dort die Aufzeichnungen der Verlorenen, die sich gegenseitig suchten, Adressen, Warnungen, Hinweise, Schreie ins Leere, in einer Pe riode allgemeiner Gleichgültigkeit, der bald die Epoche der Un menschlichkeit folgen sollte: der Krieg, in dem Gestapo und Miliz und oft auch die Gendarmen gemeinsame Sache machten in ihrer Jagd auf uns Unglückliche.

I

Ich war vor einigen Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lis sabon in Amerika angekommen und konnte nur wenig Englisch

— das war, als hätte man mich halb stumm und halb taub und von einem anderen Planeten hier ausgesetzt. Es war auch ein anderer Planet, denn in Europa war Krieg.

Dazu kam, daß meine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich hatte zwar dank vieler Wunder ein gültiges amerikanisches Visum, mit dem ich eingereist war; aber mein Paß lautete auf einen anderen als meinen Namen. Die Immigrationsbehörden waren mißtrau isch geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt. Nach sechs Wochen hatten sie mir dann eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben. In dieser Zeit sollte ich mir eine Ein reisegenehmigung in ein anderes Land besorgen. Ich kannte das von Europa her. Ich hatte dort seit Jahren so existiert — nicht von einem Monat, sondern von einem Tag zum ändern. Als deutscher Emigrant war ich ohnehin seit 1933 offiziell tot. Jetzt für drei Monate nicht mehr fliehen zu müssen, war bereits ein unfaßbarer Traum.

Es schien mir auch schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen Namen zu haben und mit dem Paß eines Toten zu leben

— im Gegenteil, eher passend. Ich hatte den Paß in Frankfurt geerbt; der Mann, der ihn mir an genau dem Tag schenkte, an dem er starb, nannte sich Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert

Ross. Meinen wirklichen Namen hatte ich fast vergessen. Man kann viel vergessen, wenn es ums nackte Leben geht.

In Ellis Island hatte ich einen Türken getroffen, der vor zehn Jahren schon einmal in Amerika gewesen war. Ich wußte nicht, weshalb man ihn jetzt nicht wieder einreisen ließ, ich fragte auch nicht danach. Ich hatte zu oft erlebt, daß man Leute einfach des halb auswies, weil sie in keine Spalte des Fragebogens paßten. Der Türke gab mir die Adresse eines Russen, der in New York wohnte und den er aus früheren Zeiten kannte. Er wußte freilich nicht, ob er noch am Leben war. Als ich freigelassen wurde, ging ich trotzdem sofort hin. Es war selbstverständlich, daß ich das tat; ich hatte ja seit Jahren so gelebt. Leute, die auf der Flucht waren, mußten mit Zufällen weiterleben, und je unwahrschein licher sie waren, desto normaler kamen sie einem vor. Es waren die Märchen von heute; sie waren nicht sehr erheiternd, aber sie endeten überraschenderweise oft besser, als man erwartet hatte. Der Russe arbeitete in einem kleinen, sehr heruntergekommenen Hotel in der Nähe des Broadway. Er nannte sich Melikow, sprach Deutsch und nahm mich sofort auf. Als alter Emigrant hatte er einen Blick für das, was mir fehlte: ein Unterkommen und Arbeit. Das Unterkommen war leicht gefunden; er hatte ein zweites Bett, das er in seinem Zimmer unterbrachte. Mit einem Touristenvisum war es mir verboten, zu arbeiten, ich hätte dafür ein anderes haben müssen: ein Einreisevisum mit einer Quota- nummer. Ich mußte also heimlich arbeiten. Ich kannte das aus Europa, und es störte mich nicht besonders. Ich hatte auch noch etwas Geld.

«Haben Sie eine Ahnung, wovon Sie leben könnten?«fragte mich Melikow.

«Ich habe in Frankreich zuletzt als Schlepper für Händler mit zweifelhaften Bildern und falschen Antiquitäten gelebt.«»Verstehen Sie etwas davon?«

«Nicht viel, aber einiges von den üblichen Praktiken.«

«Wo haben Sie die gelernt?«

«Ich war zwei Jahre lang im Museum in Brüssel.«

«Angestellt?«fragte Melikow überrascht.

«Versteckt«, antwortete ich.

«Vor den Deutschen?«

«Vor den Deutschen, die Belgien eingenommen hatten.«

«Zwei Jahre?«sagte Melikow.»Und man hat Sie nicht gefun den?«

«Midi nicht. Aber den Mann, der mich versteckt hat.«

Melikow sah mich an.»Sie sind entkommen?«

«Ja.«

«Haben Sie von dem anderen noch etwas gehört?«

«Das Übliche. Man hat ihn in ein Lager gebracht.«

«War er Deutscher?«

«Belgier. Direktor des Museums.«

Melikow nickte.»Wie konnten Sie so lange unentdeckt bleiben?«fragte er dann.»Kamen keine Besucher in das Museum?«

«Doch. Tagsüber war ich im Keller in einem Abstellraum einge schlossen. Abends kam der Direktor, brachte mir Essen und öff nete mir für die Nacht mein Versteck. Ich blieb im Museum, aber ich konnte aus dem Keller heraus. Licht durfte ich natürlich nicht machen.«

«Wußten andere Angestellte davon?«

«Nein. Der Abstellraum hatte keine Fenster. Ich mußte still sein, wenn jemand in den Keller kam. Am meisten Sorge hatte ich da vor, zur falschen Zeit niesen zu müssen.«

«Hat man Sie dadurch entdeckt?«

«Nein. Es war jemandem aufgefallen, daß der Direktor abends so oft im Museum blieb oder noch einmal zurückging.«

«Ich verstehe«, sagte Melikow.»Konnten Sic lesen?«

«Nur nachts, im Sommer und wenn der Mond schien.«

«Aber Sie konnten nachts im Museum umhergehen und die Bil der ansehen?«

«Solange man sie sehen konnte.«

Melikow lächelte.»Ich mußte während der Flucht aus Rußland an der finnischen Grenze einmal sechs Tage unter dem Holz stapel eines Blockhauses liegen. Als ich herauskam, dachte ich, es wäre viel länger gewesen. Mindestens vierzehn Tage. Aber ich war damals jung, und für einen jungen Menschen vergeht die Zeit ohnehin langsamer. Sind Sie hungrig?«fügte er ohne Über gang hinzu.

«Ja«, sagte ich,»sehr sogar.«

«Das dachte ich. Man ist immer hüngrig, wenn man freigelassen wird. Gehen wir in die Apotheke essen.«

«In die Apotheke?«

«In einen Drugstore. Das ist eine der Eigentümlichkeiten des Landes. Man kann dort Aspirin kaufen und essen.«

«Was haben Sie tagsüber im Museum getan, um nicht irrsinnig zu werden?«fragte Melikow.

Ich blickte die Reihe der Leute entlang, die eilig an der langen Theke aßen und vor sich Reklameschilder und Medizinflaschen hatten.»Was essen wir hier?«fragte ich zurück.