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«Ein Hamburger. Neben Wiener Würstchen die Hauptnahrung des Volkes. Steaks sind zu teuer für den einfachen Mann.«

«Ich wartete auf den Abend. Ich benutzte natürlich jedes Mittel, um nicht immerfort an die Gefahr zu denken, in der ich mich be fand. Das hätte mich sehr schnell verrückt gemacht. Dafür aber hatte ich schon etwas Training, ich war ja bereits einige Jahre unterwegs, eines davon auf der Flucht in Deutschland. Ich ver mied jeden Gedanken, irgend etwas falsch gemacht zu haben. Reue zerfrißt die Seele gründlicher als Salzsäure — sie ist etwas für ruhige Zeiten. Ich repetierte mein Französisch immer wieder und gab mir selbst unzählige Nachhilfestunden. Dann begann ich, nachts in den Sälen des Museums umherzustreichen und die Bilder zu betrachten und mir einzuprägen. Bald kannte ich sie alle. Dann fing ich an, sie mir in meinem Gelaß im Dunkel des Tages vorzustellen. Ich ging dabei systematisch vor, Bild für Bild, nicht wahllos, und ich brauchte oft viele Tage für ein einzel nes Gemälde. Ich hatte zwischendurch Verzweiflungsanfälle, aber ich begann immer wieder von neuem. Hätte ich einfach die Bilder betrachtet, wäre die Verzweiflung viel häufiger gekom men. Dadurch, daß ich eine Art Gedächtnisübung daraus machte, gab ich mir eine Chance, mich zu verbessern. Ich rannte nicht mehr gegen eine Wand, idi ging eine Treppe hinauf. Verstehen Sie das?«

«Sie blieben in Bewegung«, sagte Melikow.»Und Sie hatten ein Ziel. Das schützte Sie.«

«Ich lebte einen Sommer lang mit Cezanne und einigen Degas. Es waren natürlich Phantasie-Bilder und Phantasie-Vergleiche. Aber es waren trotzdem Vergleiche, und dadurch wurden sie eine Herausforderung. Ich memorierte die Farben und die Komposi tionen, dabei hatte ich die Farben doch nie am Tage gesehen. Es waren Mondschein-Cezannes und Nacht-Degas, die ich in ihren Schattenwerten memorierte und verglich. In der Bibliothek fand ich später Kunstbücher. Ich hockte mich unter die Fenstersimse und studierte sie. Es war eine Gespensterwelt, aber es war eine Welt.«

«War das Museum nicht bewacht?«

«Nur am Tage. Abends wurde es abgeschlossen. Das war mein

Glück.«

«Und das Unglück des Mannes, der Ihnen das Essen brachte.«

Ich blickte Melikow an.»Und das Unglück des Mannes, der mich versteckt hatte«, erwiderte ich ruhig. Ich sah, daß er es gut ge meint hatte; er wollte mir keine Rüge erteilen. Er sprach über Tatsachen, weiter nichts.

«Sie können nicht anfangen, Ihren Unterhalt als illegaler Teller wäscher zu verdienen«, sagte er.»Das ist romantischer Unfug und, seit es Gewerkschaften gibt, auch vorbei. Wie lange können Sie leben, ohne verhungern zu müssen?«

«Nicht lange. Was kostet diese Mahlzeit?«

«Eineinhalb Dollar. Alles ist hier seit dem Krieg teurer gewor den.«

«Krieg?«sagte ich.»Hier ist doch kein Krieg!«

«Doch!«erwiderte Melikow.»Wieder einmal zu Ihrem Glück. Man braucht Leute. Es gibt keine Arbeitslosen mehr. Sie werden leichter etwas finden.«

«Ich muß in zwei Monaten hier wieder weg.«

Melikow lachte und schloß seine kleinen Augen.»Amerika ist sehr groß. Und es ist Krieg. Wieder zu Ihrem Glück. Wo sind Sie geboren?«

«Nach meinem Paß in Hamburg. In Wirklichkeit in Hannover.«»Man wird Sie weder wegen dem einen noch wegen dem ändern ausweisen können. Aber Sie könnten in ein Internierungslager kommen.«

Ich hob die Schultern.»Ich bin in einem gewesen, in Frank reich.«

«Geflohen?«

«Eher eines Tages weggegangen. In der allgemeinen Konfusion der Niederlage.«

Melikow nickte.»Ich war auch in Frankreich. In der allgemeinen Konfusion eines Sieges, der nur theoretisch war. Neunzehnhun dertachtzehn. Ich war aus Rußland gekommen — über Finnland und Deutschland. Auf der ersten Welle der kleinen Völkerwan derung. Glauben Sie nicht, daß wir jetzt etwas Wodka brauchen könnten?«

«Ich habe gelernt, dem Schnaps zu mißtrauen«, erklärte ich.»Er hat mich einige Male dazu gebracht, mir selbst zuviel zu ver trauen. Zweimal mit sdieußlichen Resultaten — Gefängnisse mit Ungeziefer.«

«In Spanien?«

«Nordafrika.«

«Versuchen wir es trotzdem ein drittes Mal. Die Gefängnisse hier sind sauber. Ich habe Wodka im Hotel. Hier bekommt man nichts.«

«Sind Sie ein Romantiker?«fragte Melikow.

«Nicht sehr oft. Die Polizei faßt Romantiker leichter als an dere.«

«Daran brauchen Sie doch für ein paar Monate nicht zu den ken.«

«Das ist wahr. Ich bin noch nicht daran gewöhnt.«

Wir gingen zu Melikows Hotel, aber ich hielt es dort nicht lange aus. Ich wollte nichts trinken, ich wollte auch nicht in dem ver brauchten Plüsch dort sitzen, und Melikows Zimmer war zu klein. Ich wollte noch einmal hinaus. Man hatte mich lange genug eingesperrt. Selbst Ellis Island war ein, wenn auch komfortables, Gefängnis gewesen. Melikows Bemerkung, ich hätte für die nächsten zwei Monate von der Polizei nichts zu befürchten, saß mir noch im Kopf. Das war eine unwahrscheinlich lange Zeit.»Wie lange kann ich noch Weggehen?«fragte ich.

«Solange Sie wollen.«

«Wann gehen Sie schlafen?«

Melikow machte eine lässige Geste.»Nicht vor morgen früh. Ich habe jetzt zu tun. Wollen Sie eine Frau suchen? Das ist in New York nicht so einfach wie in Paris. Und etwas gefährlicher.«»Nein. Ich will noch ein wenig herumlaufen.«

«Eine Frau finden Sie leichter hier im Hotel.«

«Ich brauche keine.«

«Man braucht immer eine.«v

«Nicht heute.«

«Sie sind also doch ein Romantiker«, sagte Melikow.»Merken Sie sich die Nummer der Straße hier und den Namen des Hotels: Hotel Reuben. Man findet sich in New York leicht zurecht, fast alle Straßen haben hier Nummern, nur wenige haben Namen.«

So wie ich, dachte ich — eine Nummer mit irgendeinem Namen. Es war eine wohltuende Anonymität; Namen hatten mir genug Schwierigkeiten gebracht.

Ich ließ mich durch die anonyme Stadt treiben, deren heller Rauch zum Himmel stieg. Eine düstere Feuersäule bei Nacht und eine Wolkensäule bei Tag — hatte nicht Gott auf ähnliche Weise dem ersten Volk der Emigranten in der Wüste den Weg gewie sen? Ich ging durch einen Regen von Worten, Lärm, Gelächter und Schreien, der blind auf meine Ohren schlug — ich verstand nur den Lärm, nicht den Sinn. Ein jeder schien mir hier, nach den dunklen Jahren in Europa, ein Prometheus zu sein — der schwei ßige Mann, der mir, von Elektrizität umwittert, aus einer Laden tür beschwörend einen Arm voll Socken und Handtücher zum Kaufen entgegenstreckte, ebenso wie der Koch, der in einer gro ßen Pfanne Pizza briet, von Funken umsprüht wie ein neapoli tanischer Gott. Da ich sie nicht verstand, waren sie alle in einem schier symbolischen Sinne ihrer Handlungen entkleidet. Sie wirk ten auf mich, als ständen sie auf einer Bühne. Sie waren nicht nur Kellner, Köche, Anreißer und Verkäufer, sondern gleichzeitig Marionetten, die ein unverständliches Spiel miteinander spielten, von dem ich ausgeschlossen war und von dem ich nur die Umrisse wahrnahm. Ich war mitten unter ihnen und gehörte doch nicht dazu, war entfernt durch etwas Unsichtbares, nicht durch eine Glaswand und nicht durch eine Distanz, nicht durch Feindseligkeit und nicht durch Fremde, sondern durch etwas, das nur mich anging und nur aus mir kam. Dunkel begriff ich, daß es ein ein maliger Augenblick war, daß er so nie wieder käme. Schon mor gen würde er etwas verwischt sein — nicht daß ich all dem näher gekommen wäre, im Gegenteil —, es war möglich, daß ich schon morgen den Kampf beginnen würde mit Kuschen und Feilschen und Verfälschen und jener Traube aus Halblügen, aus der jeder Tag bestand, aber heute nacht zeigte mir die Stadt ihr unbeteilig tes Gesicht.

Ich wußte plötzlich, daß ich jetzt, wo ich an dieser fremden Küste angelangt war, die Gefahr noch nicht überstanden hatte, daß sie im Gegenteil erst richtig begann. Nicht die äußere, sondern die von innen. Ich war so lange mit dem einfachen Überleben be schäftigt gewesen, und darin hatte gleichzeitig mein Schutz ge legen. Es war primitives Überleben gewesen, wie bei der Panik eines SchifTsunterganges, wo es kein anderes Ziel gibt als das, zu überleben. Jetzt, schon von morgen an, sogar von dieser sonder baren Stunde an, würde sich das Leben wieder fächerförmig vor mir ausbreiten, es würde wieder eine Zukunft, aber auch eine Vergangenheit haben, eine Vergangenheit, die mich leicht er schlagen konnte, wenn ich sie nicht vergaß oder sie bewältigen konnte. Ich wußte plötzlich, daß das Eis, das sich gebildet hatte, noch für lange Zeit zu dünn wäre, um darauf zu gehen. Ich würde einbrechen. Ich mußte es vermeiden. Gab es das noch ein mal, von vorn, so wie die Sprache, die neue unbekannte, die vor mir lag, um gedeutet zu werden, gab es das noch einmaclass="underline" das Leben, und war es nicht Verrat, war es Mord, doppelter Mord an geliebten Toten?