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Seine Majestät hatte kein Interesse an seiner Musik mehr. Wie oft war es in den Jahren vorgekommen, dass das abendliche Kammerkonzert abgesagt worden wat? Fünfmal? Sechsmal?

Meist steckten die mysteriösen Krankheitsanfälle dahinter, unter denen der König seit den Kriegen litt. Gicht. Plötzliches Fieber. Quantz hätte sich umhören sollen, ob sie diesmal auch der Grund waren. Allerdings fand das Souper in Monbijou statt. Friedrich konnte reisen, war also nicht krank.

Quantz biss sich an einer besonders heiklen Passage fest. Es musste ihm gelingen, vor der Hofgesellschaft den mitreißenden Hofvirtuosen abzugeben. Er musste das Publikum verzaubern.

Längst war er zu einem Satz aus einem seiner Konzerte übergegangen. Und es war reine Mechanik, die er produzierte. Ohne Gefühl, das er doch in seiner Musik zu vermitteln versuchte … Der Mensch ist eine Maschine, fiel ihm die These von La Mettrie ein.

Er verhakte sich an einer schweren Stelle, wiederholte sie, bis seine Finger wie ein gut geöltes Räderwerk punktgenau die richtigen Löcher auf dem Instrument öffneten und schlossen und sich dabei seinem Atem anpassten, mit dem er den Noten Seele einhauchte.

Ganz versunken hörte er, wie draußen vor seiner Kammer jemand vorbeiging. Wahrscheinlich war es Klara, die das Geschirr im Salon abgeräumt hatte.

Anna saß wohl immer noch in ihrem Sessel und beschäftigte sich mit ihrer Gesundheit. Sie gab nicht nur Geld für Ärzte aus, sie hatte es sich auch zur Angewohnheit gemacht, teure Bücher zu kaufen, um selbst medizinische Erkenntnisse zu gewinnen.

Quantz musste wieder an La Mettrie denken. Der seltsame Franzose war ja nicht nur Philosoph, sondern darüber hinaus Arzt – wie es hieß, mit Erfahrungen in der Armee und auf dem Schlachtfeld. Wie würde er wohl Anna behandeln? Als Philosoph dachte er viel über das Glück nach. Wahrscheinlich würde er ihr klarmachen, dass das Glück vor ihrer Nase schwebte und sie es mit ihrem Reichtum doch genießen könnte, wenn sie nur wollte. Sie aber war nicht in der Lage, es zu erkennen. Würde La Mettrie ihr auf seine ironische Art einreden, dass sie gewissermaßen an einer Augenkrankheit litt?

Quantz belustigte der Gedanke dermaßen, dass er das Instrument absetzen musste. Schlagartig war es still im Raum, sodass ein Geräusch aus einer anderen Ecke der Wohnung umso deutlicher zu hören war. Ein rhythmisches, unterdrücktes Ächzen kam aus der Richtung der Dienstbotenkammern. Immerhin hatten Klara und Anton die glückliche Seite ihres Lebens erkannt.

Quantz gönnte es ihnen. Er setzte die Flöte an die Lippen und spielte eine Begleitmusik zum Liebesspiel.

***

Andreas blutete immer noch aus der Nase. Der Mann hatte ihm zwar einen nassen Lappen gegeben, mit dem er den Fluss stoppen konnte, aber es wollte einfach nicht aufhören. Immerhin hatten die Schmerzen nachgelassen. Seine Nase fühlte sich an als habe er Schnupfen – alles war geschwollen und verstopft. Vorsichtig atmete er durch den Mund, tupfte immer wieder die klebrige Nässe auf und hörte dem Mann zu.

Der Mann schien Andreas etwas sehr Kompliziertes vermitteln zu wollen. Er verhaspelte sich und begann immer wieder von Neuem. Erst später fiel Andreas auf, dass er von einem Blatt ablas.

Andreas hatte irgendwann aufgehört, sich darüber zu wundern, dass manche Menschen die einfachsten Dinge nicht konnten. Wenn irgendwo vierunddreißig Kartoffeln auf einem Haufen lagen und Andreas nach einem kurzen Blick darauf aufschrieb, dass dort eben vierunddreißig Kartoffeln lagen, dann konnte ihm das Ärger einbringen. Man hänselte ihn, man lachte ihn aus. Man schalt ihn überheblich. Man schlug ihn sogar. Ganz selten machte sich jemand die Mühe, nachzusehen, ob er recht hatte. Und er hatte immer recht.

Zum Beispiel auf dem Markt, wenn jemand abgezählte Zwiebeln haben wollte und Andreas sofort sah, dass der Händler zwei zu wenig in den Sack hineingab.

Andreas hatte zwei Lehren aus dem Verhalten der Menschen gezogen. Die Leute waren scheinbar nicht in der Lage, die Wahrheit zu erkennen. Ihnen genügte nicht ein einziger Blick, um zu sehen, dass dreihundertvierundachtzig Bohnen vor ihnen lagen. Und als ob das nicht seltsam genug gewesen wäre, hatten sie oft gar kein Interesse daran, die Wahrheit zu erfahren – eine Tatsache, die Andreas zutiefst verwirrte und die ihn letztlich dazu gebracht hatte, gar nicht mehr zu sprechen. Unter keinen Umständen.

Er saß still vor den aufgeschichteten Notenblättern – es waren vierundfünfzig – und hörte zu.

»Hast du verstanden?«, schloss der Mann seine Rede.

Natürlich hatte er verstanden. Andreas griff zur Feder und tauchte sie in das Tintenfass. Sofort schlug der Mann zu. Das Fläschchen fiel um, ein Riesenklecks ergoss sich auf das oberste Blatt. Frisches Blut schoss aus Andreas’ Nase, seine Augen füllten sich mit Tränen.

Was war los? Er hatte genau das getan, was der Mann verlangt hatte!

»Verdammt«, rief der Mann. »Hast du jetzt verstanden, oder nicht?«

Andreas nickte heftig.

»Dann tu endlich, was man dir sagt.«

***

Das Souper der hohen Gesellschaft war längst im Gange, als Quantz, in einen leuchtend hellen gelb-weißen Rock gekleidet, mit der Kutsche vorfuhr und durch einen Nebeneingang das Schloss betrat.

Das Personal erhielt ebenfalls eine Mahlzeit, die aus Überschüssigem des Festmahls bestand und in der Lakaienunterkunft eingenommen wurde: etwas Suppe, Fisch, Braten und eine Auswahl Gemüse. Nur die teuren Desserts, wahre Kunstwerke der Konditoren, behielten die Herrschaften für sich.

So saß er an einem langen rohen Holztisch auf der Bank zwischen den lärmenden Dienstboten und den anderen Musikern und stillte seinen Hunger mit ein paar Bratenscheiben. Ein Stück weiter hatten Bach, Graun und Mara Platz genommen. Quantz winkte zum Gruß, aber sie schienen in Gespräche vertieft und beachteten ihn gar nicht.

Er wurde abgelenkt, als sich einer von den Domestiken neben ihn drängte, grob die schmutzigen Teller zusammenschob und fettige Soße verschüttete. Quantz konnte gerade noch aufspringen und seine Garderobe schützen.

»Pass Er doch auf, Kerl!«

Der Lakai lachte nur. »Hältst dich für was Besseres? Königlicher Querpfeifer. Pass selber auf.« Ein paar andere Diener stimmten in das Gelächter ein.

Quantz ging entrüstet davon und lief durch die Botengänge in den Raum, den man den Musikern zur Vorbereitung überlassen hatte. Er konnte die Gesellschaft der Domestiken nicht mehr ertragen.

Schon von Weitem waren die Musiker zu hören, die die Zeit nutzten, um sich einzuspielen. In wüstem Durcheinander häuften sich Instrumentenkoffer, Noten und die bereits ausgepackten Instrumente selbst: Violinen, Violoncelli, ein Kontrabass. Zwei Hornisten arbeiteten sich durch Tonleitern, was die Lippen geschmeidig machte. Ein Geiger und ein Bratscher übten Passagen, wobei der eine mühsam die Töne des anderen ignorierte. Alles zusammen ergab eine infernalische Geräuschkulisse. Der Raum lag in einem entfernten Flügel des großen Saales, sodass die speisende Gesellschaft nichts von dem Treiben mitbekam.

Graun betrat den Raum, die Geige in der Hand. Er hatte sie nach dem Cembalo im Saal gestimmt und gab den Kammerton, damit die anderen die Tonhöhe anpassen konnten. Nach und nach kamen die anderen Musiker hinzu. Auch Quantz stimmte seine Flöte durch, indem er die einzelnen Teilstücke um haarfeine Nuancen auseinanderzog. Ein Lakai brachte das Instrument des Königs, das ebenfalls eingerichtet werden musste.

Schon bei der Ankunft hatte Quantz erfahren, dass einer der Höhepunkte der Musikdarbietung ein Duett Friedrichs mit seinem Flötisten sein würde. Er erledigte die Routineaufgabe und ging langsam in dem großen Raum auf und ab. Wie vor allen Auftritten ergriff ihn in kleinen Schüben eine prickelnde Nervosität, die ihm jedoch nicht unangenehm war. Unruhig rieb er die feuchten Handflächen aneinander, stellte sich an das hohe Fenster und sah hinaus in die Nacht.