Monbijou lag direkt an der Spree. Zwischen dem lang gezogenen, ein wenig verschachtelten Gebäude und dem Fluss lag der Schlosspark gleich gegenüber der Spitze der Flussinsel. Leider war der Blick über den Park von hier aus nicht möglich. Er blieb der Gesellschaft im großen Saal vorbehalten.
Quantz mochte die herrlichen Feste, die in den warmen Monaten zu Ehren der Königinmutter gefeiert wurden. Friedrich hatte ihr Monbijou als Altersresidenz herrichten lassen und ihr damit ein Domizil geschaffen, das an Prunk und Schönheit sogar das Schloss der regierenden Königin bei Weitem übertraf. Es war ein typisches Zeichen dafür, wie der König seine Gunst verteilte.
In der schwarzen Spiegelung der Scheiben erkannte Quantz, dass hinter ihm immer mehr Musiker den Raum betraten. Nun war die ganze Hofkapelle versammelt. Der Ton »a« – Richtschnur für das Einstimmen – wanderte von Graun zu den Oboen, dann zu den Violinen, Violen und Celli, schließlich zu den Hörnern. Als alle eingestimmt hatten, setzte wieder ein Durcheinander an Motivfetzen und Melodien ein. Jeder nahm sich noch einmal kurz die schwierigsten Passagen seines Parts vor und überspielte damit die aufkommende Nervosität.
Quantz, seine Flöte und die des Königs in der Hand, beteiligte sich nicht daran. Er hielt sich abseits. Erneut wurde ihm bewusst, dass er innerhalb der Hofmusik eine Art Fremdkörper war. Die Geiger, Hornisten, Cellisten, Oboisten spielten bei festlichen Soupers wie heute Abend, sie musizierten in der Oper und bei vielen anderen Gelegenheiten. Sie sorgten für den festlichen Rahmen bei Geburtstagen der Hoheiten, und das nicht nur bei Seiner Majestät und der Königinmutter, sondern auch bei den Geschwistern des Königs, die jeweils ihren eigenen Hofstaat unterhielten: allen voran natürlich Anna Amalia, die junge Prinzessin, die sich wie Friedrich für Musik interessierte und Cembalo spielte. Und die Brüder August Wilhelm und Heinrich, die kein so spartanisches Leben wie Seine Majestät führten, sondern den weltlichen Genüssen durchaus zugetan waren.
Wieder öffnete sich die Tür. Das wüste Durcheinanderspielen fiel in sich zusammen, weil alle den Lakaien erwarteten, der die Musiker zu ihrem Auftritt holte. Doch herein trat eine bunt gekleidete Gestalt, in der Quantz Monsieur La Mettrie erkannte, der sofort auf eine kleine Gruppe zuschritt, die sich um Carl Philipp Emanuel Bach geschart hatte. Es war der harte Kern der Hofkapelle: Graun, Benda, Mara und noch ein paar andere, die nicht am Kammerkonzert in Sanssouci teilnahmen, sondern vor allem in der Oper spielten.
Als die Hofmusiker sahen, dass es noch nicht so weit war, gaben sie sich wieder ihrem Einspielen hin. Was wollte der Franzose hier? Der Mann war ein Kammerherr des Königs. Es war ein Gebot der Höflichkeit, sich nicht vom Souper zu entfernen. Außer Friedrich oder die Königin, die ja die offizielle Gastgeberin war, hatten es ihm erlaubt.
Ob das wirklich eine Rolle spielte? Dieser La Mettrie war ein Freigeist. Wenn er zu den Musikern gehen wollte, dann tat er das, ohne jemanden zu fragen. Und der König schien große Stücke auf ihn zu halten, wenn er es ihm gestattete.
Quantz ging auf die Gruppe zu. Graun erblickte ihn und berührte Bach kurz am Arm. Der wollte sich umdrehen, doch Graun schüttelte den Kopf, als wolle er ihn auffordern, nicht zu Quantz hinzusehen. Dafür drehte sich La Mettrie zu Quantz und tat so, als würde er ihn erst jetzt bemerken.
»Maître de Musique«, rief er laut und kam einen Schritt auf ihn zu. Quantz ließ sich nicht ablenken. Er konnte deutlich erkennen, dass Bach einen kleinen Papierzettel in den Aufschlägen seines blauen Rockärmels verschwinden ließ.
»Seine Majestät ist sehr erfreut, mit Euch zu musizieren!«
Es gelang Quantz, den Franzosen anzulächeln und trotzdem wachsam zu bleiben. »Ich freue mich auch, und es ist mir eine Ehre.« Er ließ die höfliche Floskel los und beobachtete dabei, wie sich die Gruppe um Bach auflöste.
»Wie ich höre, werden Sie ein Opus zu Gehör bringen, das seine Königliche Majestät selbst komponiert hat«, sagte La Mettrie. »Auf Befehl der Königin Mutter.«
»Sehr richtig, Monsieur, es ist eine Sinfonie in großer Besetzung – die Ouvertüre zu einer Serenade, die wir bereits im vergangenen Jahr gespielt haben, als Sie noch nicht die Ehre hatten, am Hofe zu sein.«
»Welch ein Glück für mich, dass mir das entgangene Vergnügen nun doch noch zuteilwird.«
»Sie beschäftigen sich gern mit dem Glück?«, fragte Quantz, der immer noch versuchte, Bach im Blickfeld zu behalten. Der Cembalist hatte sich Mara zugesellt. Graun, der unübersehbar kontrollierte, ob Quantz noch in das Gespräch mit La Mettrie versunken war, holte Benda dazu, und sofort stand die Gruppe wieder beieinander.
»Ist Glück nicht das Wichtigste, was es im Leben gibt?«, fragte La Mettrie.
»Natürlich, Monsieur. Die Frage ist nur, wie man es erlangt.«
»Mir scheint, Sie haben es gefunden. Was gibt es Herrlicheres, als mit einem so großherzigen König durch die Harmonie der Musik vereint zu sein?«
Das Geplauder war ermüdend. Nichtssagend gab man dem Gegenüber scheinbar recht, knüpfte an dessen Aussagen an und gab ihnen damit eine gewisse Bedeutung, obwohl man sie im nächsten Moment wieder vergessen hatte. Oder die Unterhaltung brach ab, weil sich jemand einmischte, den man seinem Gesprächspartner vorzustellen hatte oder der mit einem Einwand alles in eine neue Richtung lenkte.
Diesmal sorgte ein Lakai für eine Unterbrechung. Er verkündete endlich, die Herrschaften hätten befohlen, mit dem Konzert zu beginnen.
Den Anfang machte eine Streichersinfonie – auch aus der Feder des Königs. Quantz und die anderen standen seit Minuten vor der Tür und warteten darauf, sich zu dem Ensemble hinzuzugesellen, wenn das erste Werk verklungen war.
Das Stück mündete in einen gemeinsamen Schlusston. Matter, durch edle Handschuhe gedämpfter Applaus erklang. Die Lakaien öffneten die hohen hölzernen Flügeltüren. In Quantz brandete die Aufregung wie eine schäumende Welle. Sie gingen hinein. In den wenigen Atemzügen, die die Aufstellung in Anspruch nahm, steigerte sich seine Unruhe plötzlich so stark, dass er sein Herz in den Ohren pochen hörte.
Vor sich erblickte er die bunte Gesellschaft. Hunderte von Augen sahen ihn an, und für einen Moment fühlte er sich nackt und bloß. Dieses Gefühl kannte er bereits, und er wusste, dass es gleich vergehen würde. Mit den beiden Flöten in der Hand schritt er über das Parkett bis zu seiner Position neben dem Cembalo.
Die Atmosphäre in dem riesigen Saal war mit der bei den intimen Kammerkonzerten in Potsdam nicht zu vergleichen. Anders als in Potsdam war hier in Berlin der höfische Prunk lebendig geblieben.
Erst jetzt ließ Quantz seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Sie saßen an einer einzigen Tafel in einem großen Rechteck, an den holzvertäfelten Wänden standen Lakaien bereit. Offiziere bewachten den Vorschriften gemäß die Haupteingänge.
Vorn in der Mitte thronte die alte Königin in einem silberdurchwirkten Kleid, neben ihr Seine Majestät, der in seinem dunkelblauen Rock wie einer der Militärs wirkte. Um ihn herum hatte die gesamte übrige Hofgesellschaft ihren Platz – Prinzessin Amalia, die beiden Prinzen, daneben Generäle, Diplomaten, Kammerherren und Hofdamen. Friedrichs Gemahlin, Königin Elisabeth Christine, war wie üblich nicht zugegen. Sie wurde nur eingeladen, wenn die Etikette es nicht vermeiden ließ. Und auch dann sprach der König kein Wort mit ihr. Selbst nach Potsdam durfte sie nicht kommen. Sanssouci hatte sie nie gesehen.
Der Glanz von Hunderten von Kerzen erleuchtete den Saal. Die Flammen, die so dicht beieinander zu Feldern aus Licht zusammenflossen, brachen sich in den Spiegeln und den dunklen Fenstern, die auf den Park hinausgingen. In der langen Reihe der Scheiben erschien der ganze Festsaal in all seiner Pracht ein zweites Mal. Die nächtliche Stadt Berlin blieb draußen, die hohe Gesellschaft war unter sich.