Nach wenigen Schritten stand er an einer rostigen Gittertür. Immerhin waren die Stäbe so weit voneinander entfernt, dass er eine Hand mit dem Licht hindurchstecken konnte. Auf einer Holzbank lag der dicke, brutale Mann, der ihn geschlagen hatte, und schnarchte. Eine Hand hing herab. Sie hielt einen Eisenring, an dem ein Schlüssel befestigt war.
Hinter dem Raum mit dem schlafenden Wächter ging es sicher in die Freiheit. Andreas packte die Stäbe. Irgendetwas in ihm hoffte, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Doch sie gab nicht nach. Er war gefangen.
Als der Kerl ihn zu der Aufgabe an dem Tisch zwang, hatte er noch geglaubt, hinterher gleich wieder freigelassen zu werden. Sein Geist war abgelenkt, er hatte nicht wahrhaben wollen, in ein Gefängnis des Königs geraten zu sein. Denn nichts anderes war das hier doch, oder nicht?
Andreas hatte noch nie davon gehört, dass andere Leute als der König Gefängnisse unterhielten.
Er hockte sich auf den Boden, die Kerze neben sich. Hatte er dem König geschadet? War er ein Verräter? Aber er hatte doch nichts getan! Was warf man ihm vor?
Als die Kerze nur noch zwei Fingerbreit hoch war, schob er seine Überlegungen beiseite. Er durfte hier unten nicht versauern. Er musste mit jemandem sprechen, der beim König ein gutes Wort für ihn einlegte. Mit Herrn Quantz zum Beispiel. Oder Herrn Fredersdorf. Nein, besser Herr Quantz.
Wenn er erst einmal hier hinausgekommen war, würde er den Weg zu ihm finden. Auch wenn dieser Weg weit war. Sicher befand sich das Gefängnis gar nicht in Potsdam. Andreas hatte von der Festung Spandau gehört, wo man Verbrecher einsperrte.
Der Schlüssel, den der schlafende Wärter festhielt … War es vielleicht möglich, an ihn heranzukommen?
Er legte sich auf den Bauch und schob den Oberkörper so eng wie möglich an die Gittertür. Sosehr er den Arm streckte – es fehlten immer noch sechs Handbreit, um den hängenden Eisenring zu erreichen. Wahrscheinlich würde der Wärter ohnehin sofort erwachen, falls es Andreas gelingen sollte, ihm den Schlüssel aus der Hand zu ziehen.
Er streckte die Kerze so weit in den Raum hinein, wie es ging, damit die Helligkeit in alle Winkel drang. Die Bank, auf der der Wärter lag, stand an einem Tisch ähnlich dem, an dem Andreas gearbeitet hatte. Darüber war ein Brett angebracht, das Krüge und heruntergebrannte Kerzenleuchter trug. Ein weiterer Krug, ein schmutziger Teller und ein Messer waren auf dem Tisch zu erkennen.
Als hätte der Schlafende etwas von dem Licht mitbekommen, kam Bewegung in ihn. Er schnarchte lauter, brummte etwas und drehte sich. Die Hand mit dem Schlüssel bewegte sich näher, aber bei Weitem immer noch nicht nah genug.
Andreas brauchte einen langen Stab, eine Stange – am besten mit einem Haken. Oder einen Ast … Er ging den kurzen Gang zurück und überlegte fieberhaft. Hier war nirgends ein solches Hilfsmittel zu finden. Kein Werkzeug, kein Holz – nichts. Außer dem Tisch, dem Schemel, dem Schreibzeug, den Kerzen und dem Stroh gab es überhaupt nichts in seinem Gefängnis. Bis auf ein paar Steine in dem Kerkerraum mit der Kette, die wohl von der Wand heruntergebröckelt waren.
Hier waren nur Wände. Nur nackter Stein. Nur Nässe. Von der Milde des Frühlings, die draußen herrschte, war hier nicht das Geringste zu spüren.
Nachdem er alles genau untersucht hatte, war die Kerze noch kürzer geworden. Wenn das so weiterging, saß er bald im Dunkeln.
Nachdenken konnte er auch in der Finsternis, aber wie sollte er die Kerze wieder entzünden, wenn sie erst einmal erloschen war?
Andreas schlich zu der Gittertür zurück und ließ den Blick noch einmal in die Runde schweifen. Erst jetzt bemerkte er, dass neben der Tür, auf der Seite des Wärters, ein helles Bündel lag. Es befand sich im toten Winkel, man konnte es nur erkennen, wenn man sein Gesicht an den äußersten linken Gitterstab presste und in die Ecke sah.
Er legte sich hin, tastete um die Kurve, fühlte Stein, Schmutz und Feuchtigkeit. Schließlich gelang es ihm, eins von diesen Dingern, die dort gelagert waren, zu packen und heranzuziehen. Es war ein dünnes, recht stabiles Rohr aus einer Art Schilf.
Die Kerze war jetzt nur noch ein kleiner Stumpf. Die Flamme drohte mitsamt dem Docht im Wachs zu versinken.
Andreas versuchte, mit dem Rohr nach dem Schlüssel zu angeln, doch der Wärter hielt den Ring im Schlaf fest umschlossen.
Wofür waren in einem solchen Gefängnis diese Rohre eigentlich gut? Eine Menge Verwendungsmöglichkeiten fielen ihm ein – aber keine, die hier unten sinnvoll gewesen wäre.
Schließlich fiel sein Blick wieder auf die Krüge. Und als die Kerze nur noch schwach glomm und ihr Licht langsam rötlich wurde, kam ihm eine Idee.
Er eilte in den Kerker zurück und holte einige der Steine. Als er vor der Gittertür stand, wog er einen davon in der Hand. Er musste einen Schritt zurücktreten, um genau zu zielen. Hoffentlich gelang es ihm, den Stein genau zwischen den Stäben hindurchzuschicken.
Er holte aus. Überstürze nichts, dachte er. Du hast nur einen einzigen Versuch.
In dem Moment, als der Stein Andreas’ Hand verließ, wurden Stimmen laut. Eine Tür öffnete sich. Licht fiel in den Raum mit dem Wärter. Jemand näherte sich und rief etwas.
Der Stein traf einen der Krüge auf dem Regal und schlug ihn über den Rand. Er fiel herunter und traf krachend auf dem Tisch auf, über den sich eine klare Flüssigkeit ergoss. Der Schlafende fuhr auf und ließ den Ring mit dem Schlüssel los. Das Klirren des Metalls auf dem Boden ging in dem Knall unter, mit dem sich wieder eine Tür öffnete. Ein Mann kam herein und stieß einen Fluch aus.
»Schon wieder besoffen«, schrie er.
Andreas bemerkte der Mann nicht. Stattdessen rüttelte er den Schläfer wach. Der scharfe Geruch von Branntwein verbreitete sich. Offensichtlich hatte sich der Wärter damit erfolgreich die Kälte aus dem Leib getrieben.
Andreas zog schnell mit dem Rohr den Schlüssel heran, löschte die Kerze, die ohnehin nur noch schwach glomm, und lief mitsamt Rohr und Schlüssel in den hinteren Teil seines Gefängnisses. Er versteckte den Schlüssel unter dem Stroh und setzte sich wieder auf den Schemel. Dabei nahm er die Notenblätter an sich, als sei er immer noch intensiv mit seiner Aufgabe beschäftigt.
Der Neuankömmling kam heran und leuchtete Andreas ins Gesicht. »Du bist fleißig«, sagte er. »Das ist gut. Hier hast du was zu essen.«
Er schob Andreas einen Korb hin. Darin lagen ein paar Kanten Brot und zwei neue Kerzen.
Der Mann ging den Gang zurück zu dem Wächter, der sich gerade aufrappelte.
»Das nenn ich Wache halten«, schrie er. »Sich besaufen, schlafen und im Schlaf auch noch die Krüge runterschmeißen.«
Der Angesprochene war nun wach, der anderen packte ihn, und kurz darauf waren die beiden verschwunden. Andreas lauschte den Schritten und Flüchen nach, bis es still war.
Er aß ein wenig von dem Brot, das altbacken und an einigen Ecken verschimmelt war. Zur Sicherheit wartete er noch eine ganze Weile. Dreimal zählte er bis hundert. Wie immer beruhigte ihn die Beschäftigung mit Zahlen.
Schließlich holte er den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss.
Er passte. Die Tür schwang mit einem Quietschen auf.
9
Quantz stand am Dienstbotenausgang des Schlosses. Bis vor einer Viertelstunde hatte er noch geglaubt, seinem König und seinen Aufgaben bei Hofe eng verbunden zu sein. Doch jetzt kam es ihm vor, als sei diese unsichtbare Verbindung verloren gegangen. Als habe jemand ein Tau durchschnitten.