Der Franzose hatte die Front des Hauses ins Auge gefasst, die rechte Hand ans Kinn gelegt und dachte offensichtlich nach. »Wir müssen eben schnell sein und Brede finden, ehe es Weyhe gelingt. Und Brede muss uns sagen, wo Andreas ist.«
Er ging voran, öffnete die niedrige Tür zum Stall und trat hinein. Quantz folgte ihm nach hinten zu den Pferden. Die Tiere sahen sie ruhig an, als sie vorbeigingen. La Mettrie öffnete die rohe Holztür zu dem Nachbarraum, wo die Kutschen standen.
»Hier ist Brede nicht«, sagte Quantz. »So weit war ich auch schon, bevor man mich abführte.«
La Mettrie ließ sich nicht beirren. Er quetschte sich zwischen den Kutschen hindurch, sah zu Boden und hoch zur Decke. Dann bückte er sich, ging auf die Knie und blickte sogar unter die Fahrzeuge. Das alles tat er mit großer Seelenruhe. Quantz spürte, wie Ungeduld in ihm aufstieg.
»Denken Sie, Brede versteckt sich in seinen Kutschen?«, fragte Quantz.
»Ich suche ja nicht nur Brede«, antwortete der Franzose und wandte sich jetzt der Unterseite der nächsten Kutsche zu. »Das müsste Ihnen ja mittlerweile klar sein. Ah, aber hier haben wir etwas.«
Er kniete sich hin und kroch unter die Kutsche – das Hinterteil in die Höhe gestreckt wie ein läufiger Fasan. Er tastete zwischen den Rädern des nächstgelegenen Fahrzeugs herum. Schließlich erhob er sich ächzend. Seine weißen Hosen hatten gelitten. Auf dem einen Knie waren braune Schmutzflecken. Doch La Mettrie schien das nicht im Geringsten zu stören. Er hielt etwas Weiß-Rotes in der Hand. Quantz dachte zuerst, es sei ein kleiner Ball – etwas größer als eine Billardkugel. Doch das Ding war weich, offensichtlich aus Wolle.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte der Franzose.
»Sicher. Es ist der Teil einer Uniform.«
»Exakt. Einer dieser albernen Bommeln, die sich auf den Blechhüten der Soldaten befinden.« Er betrachtete das Wollbällchen nachdenklich. »Und was sagt uns das?«, fragte er.
»Dass ein Soldat dieses Ding verloren hat?«
»Sehr richtig. Aber wann und wie ist das geschehen? Sie wissen doch, wie genau die Vorschriften sind. Wenn einer dieser uniformierten Waffenknechte so etwas wie das hier verliert und die Sache nicht umgehend in Ordnung bringt, setzt es schwere Strafen. Jeden Morgen beim Appell werden die Uniformen überprüft. Man lässt nicht die kleinste Unachtsamkeit durchgehen.«
»Vielleicht hat ihn einer der Grenadiere verloren, die mich von hier abgeführt haben?«
»Hat sich denn einer der Soldaten unter die Kutsche begeben?«, fragte La Mettrie.
Quantz überlegte. Da waren die beiden Männer gekommen, die er für Brüder gehalten hatte. Erst dann waren die Grenadiere eingetreten. »Nein«, sagte er.
»Und was kann man also weiter schlussfolgern?« La Mettrie hielt den Bommel in der flachen Hand, die er bis auf Gesichtshöhe angehoben hatte, und sah ihn an. »Spielen Sie ruhig den Advocatus diaboli, lieber Maître de Musique. Das ist mir ganz recht. Nur so halten wir nicht vorschnell die Theorie für die Wahrheit, auf die wir durch die Darlegungen des wackeren Herrn Professors gekommen sind.«
»Vielleicht hat der Bommel irgendwo in den Straßen gelegen. Und er ist mit dem Schmutz an den Kutschen hereingekommen. An den Unterseiten der Fahrzeuge bleibt sicher eine Menge hängen. Wollen wir nicht einfach Brede suchen, damit er uns erklärt, warum Andreas uns auf sein Haus aufmerksam gemacht hat? Ob wir richtig liegen? Falls Brede es überhaupt weiß. Und wie die Zusammenhänge mit den Habsburgern sind. Wem das Haus gehört und was es mit den angeblichen Gängen unter diesem Viertel auf sich hat? Oder glauben Sie wirklich, Andreas könnte in einem der alten Keller sein?«
La Mettrie starrte immer noch den Wollball an. »Schweifen Sie nicht ab. Also: Das Ding kann nicht mit dem Dreck von der Straße hereingekommen sein. Es ist sauber. Es ist nicht gequetscht worden. Suchen wir weiter.«
Neben dem Stall führte eine Treppe nach oben – so schmal, dass kaum zwei Personen aneinander vorbeikamen. Sie stiegen hoch und kamen an eine kleine, aber massive Holztür. Sie war verschlossen. Dahinter lag wahrscheinlich Bredes Stube.
La Mettrie klopfte. »Brede?«, rief er. »Sind Sie zu Hause?«
Hinter der Tür tat sich nichts.
»Wenn er nicht da ist oder so tut, als sei er nicht da, müssen wir uns die Antworten auf unsere Fragen selbst holen«, sagte der Franzose.
Sie stapften wieder die Stufen hinunter in den winzigen Flur. Hier wiederholte sich das Spiel, mit dem sich La Mettrie schon im Stall beschäftigt hatte. Er ging in die Hocke und untersuchte Dielenbrett um Dielenbrett den Fußboden. Schließlich hatte er sich bis zur Rückseite der Treppe vorgearbeitet. Unter der hölzernen Schräge zeichnete sich eine Klappe ab – kaum halb so groß wie eine normale Tür. Sie führte wohl zu einem Stauraum, wie man ihn oft unter Treppen anlegte. Der Franzose öffnete sie. Geräuschlos schwang sie auf. Ein schwarzes Loch gähnte ihnen entgegen, aus dem ein Geruch nach Moder, Staub, altem Leder und Rattenkot aufstieg.
»Merde!« La Mettrie machte einen Schritt nach hinten, wobei er Quantz, der sich angesichts seiner Körpergröße in der Enge bücken musste, an die Wand drückte.
Quantz blickte über die Schulter des Franzosen in die verdreckte Kammer. Es war kaum zu erkennen, was sich darin verbarg. Wahrscheinlich altes Zeug, Abfall aus der Remise. Verschlissenes Zaumzeug, modrige Pferdedecken, verfaultes Holz gebrochener Räder. Nach dem Gestank zu urteilen, hatte sich seit Monaten oder Jahren niemand darum gekümmert.
»Hier brauchen wir nicht weiterzusuchen«, sagte Quantz.
»Sind Sie sicher?«
»Aber natürlich. In dieser Kammer ist sehr lange niemand gewesen. Nur so konnte sich der Schmutz ausbreiten.«
La Mettrie umfasste die Kante der niedrigen Tür. Das Blatt war so geschnitten, dass es genau in die Schräge unter der Treppe passte. Mehrmals schwang er es hin und her. Das Gewedel sorgte dafür, dass die Luft in Bewegung kam. Der üble Geruch breitete sich noch mehr aus.
»Monsieur, was machen Sie denn?«, fragte Quantz. Er hielt die Hand vor die Nase. Der Gestank wurde unerträglich.
»Ich demonstriere, wie gut die Tür geölt ist. Würde man das bei einer Kammer machen, die lange niemand betreten hat? Nein. Ich bin sicher, das ist die richtige Spur.«
Er öffnete die Tür wieder ganz und beugte sich nach vorn, sodass sein Oberkörper in dem Verschlag verschwand. Fluchend tastete er in dem kleinen Gehäuse herum. Schließlich drehte er sich um und hielt eine Öllampe in der Hand.
»Schauen Sie sich das an«, sagte er, wobei er sich mit der Linken den Schmutz vom Rock klopfte und mit der Rechten die Lampe schwenkte. »Diese Lampe stand dort hinten. Blitzsauber. Außergewöhnlich, oder? Und dazu noch wohl gefüllt. Wenn ich mich nicht irre, liegen da hinten sogar Zünder bereit.«
Ohne Rücksicht auf Dreck und Gestank tastete er im Dunkel der Kammer herum und erschien freudestrahlend mit einem Packen Zündstäbchen. In aller Seelenruhe machte er die Öllampe an. »Wie schön, dass man uns Blinden die Möglichkeit gibt, die Dunkelheit zu erhellen und das Licht der Aufklärung leuchten zu lassen …«, sagte er, unterbrach sich dann jedoch selbst. »Ich denke, diese Formulierung ist missglückt. Mein Deutsch ist doch nicht so gut, wie ich manchmal wünschte. Ich wollte sagen: Es ist eine gut eingerichtete Welt, in der diejenigen, die für Rätsel sorgen, auch die Mittel bereitstellen, um sie aufzuklären. Aber hat nicht schon der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz die These aufgestellt, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben? Ich möchte ihm darin nicht unbedingt widersprechen. Zumal wir ja wohl in der einzigen aller möglichen Welten leben. Eigentlich ist das eine Banalität. Allerdings wäre diese Welt noch besser, wenn alle die Ansicht dieses Kollegen teilten. Was aber nicht jeder tut, und Leipniz doch schon allein deshalb nicht recht haben kann, oder?«